Heut trink ich nix

Aus dem Alltag

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Es gibt Dinge, die erwartest du einfach nicht. Dass man auch ohne Helm Rad fahren kann. Einen Schlaganfall beim Sonntagsspaziergang. Dass Rapid je wieder die Meisterschaft gewinnt. Oder einen Weinkeller, der ausschaut wie eine heimelige Kunstgalerie in Antwerpen und in dem du Weine trinkst, für die sogar ein Atheist eine Messe lesen lassen würde.

Nein, Alfred Moritz macht keine halben Sachen, dafür hat er kein Talent. Er, der Spätberufene, der eines im Leben mit Sicherheit nicht werden wollte: Winzer. Der seine Kindheit und Jugend im elterlichen Weinbaubetrieb verbracht und sich geschworen hat: freiwillig nicht. Ganz sicher. Und seinen Beruf dann in der Großstadt fand, mit Schreibtisch und Besprechungstisch und fern von Eichenfass und Maische. Das Leben war nicht schlecht, es war nur nicht komplett. Der Wein, er hat gefehlt.

Wir klopfen, öffnen die halb angelehnte Tür, treten ein. Alfred Moritz kommt uns entgegen, mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht und einem Korb voll ofenwarmer Kipferl in den Händen. Dann führt er uns in den Keller, wo mir ein kunstvoll gerahmtes Bild auffällt, das eigentlich gar kein Bild ist, eher einer Votivtafel gleicht. Und während der Winzer mit leichter Hand und flotter Gestik den Korken aus der ersten Flasche zieht, trete ich näher und beginne zu lesen.

Aa. Bäh. Lulu. Ahwäh. Schluchz. Wäh. Lulu. Gaxi. Lulu. Bäh. Mama. Wewi, bäh. Papa. Aa, lulu. Hunga. Mama, nein. Papa. Wäh. Klo, nein. Oma. Franzi. Ich will nicht. Mimi geht in die Schule. Franzi haut mich immer. Bussi. Ich mag nicht in die Schule gehen. Brav. Wir haben keine Aufgabe. Sehr gut. Brav. Genügend. Elternsprechtag. Ich will nicht mehr in die Schule gehen. Brav.

‚Ja, für einen Biowein eigentlich eh recht gut‘, hat er oft genug gehört und hat’s schon nicht mehr hören können. Damals, als er auf den Messen gestanden ist mit seinen beiden Weinen, dem Zweigelt und dem Blaufränkischen. Mehr hat er nicht gehabt, mehr hat es nicht gebraucht. Hat er geglaubt, er war ja neu in dem Gewerbe. Also hat er begonnen, mit dem Holz zu kokettieren, den Blaufränker nicht nur in das vertraute Eichenfass gefüllt, nein, auch in Akazie und Kastanie. Derselbe Wein in neuem Gewand, er schmeckt dann anders, der Laie kann das manchmal gar nicht fassen.
Was heißt: er muss ihn kosten.

In den Ferien fahr ich nach Ibiza. Matura. Sabine ist schwanger. Mazda. Es war eine schöne Hochzeit. Karl-Uwe ist so brav. Das Auto ist schon wieder kaputt. Familienessen. Krankenstand. Der Kredit fürs Haus ist fällig. Sicher nicht wieder nach Bibione. Mama geht’s gar nicht gut. Geld. Karl-Uwe will studieren. Papa muss ins Heim.

Wir stehen am Verkostungstisch, der Zweigelt hebt frivol die Laune, die Kipferl sind noch heiß, sie müssen noch ein wenig warten. Auf Messen, da ist der Alfred Moritz nur mehr selten, und Biowein wird längst nicht mehr belächelt. Warum denn auch die Nase rümpfen ob eines Weins, der nie vom Kelch der mächtigen Chemie gekostet hat? Wer zweifelt, der ist höchst willkommen.
Und möge trinken, staunen, sich bekehren lassen.

Das kannst du doch den Kindern nicht antun. Bussi. Mercedes. Rosi ist schwanger. Jeanette will nicht in den Kindergarten. Karl-Uwe muss heiraten. Die Wohnung ist viel zu klein. Alkohol. Sie haben mich zum Abteilungsleiter gemacht. Rosi hat einen anderen. Party. Heute ist Mamas Begräbnis. Kur. Franzi hatte einen Unfall.

Ins Glas fließt forsch der sechste Wein des Tages und fordert mahnend Achtsamkeit, die wir ihm willig schenken. Das satte Bukett des Blaufränkischen füllt zuerst das Glas, dann meine Nase. Ich trinke, schlucke, schweige still. Die Flaschen mit den typischen Filzetiketten stehen vor uns aufgereiht wie eine Gruppe braver Fußsoldaten. An den Wänden hängen selbstgemalte Bilder. Vor dem Etikettiertisch steht ein restaurierter Sessel und wer sich setzt, der senkt den Hintern mutig auf ein Löwenmaul, das gierig aufgerissen ist. Eine Kachel an der Wand verkündet vollmundig ‚I trink heut nix‘. Alfred Moritz greift nach der siebten Flasche.
Ich blicke auf und siehe da: der sechste Wein, er ist nicht mehr.

Marlenes dritter Geburtstag. In meinem Alter finde ich sicher keinen Job mehr. Hüftoperation. Daihatsu. Karl-Uwes Frau sagt, ich muss ins Pflegeheim. Herzinfarkt. Jeanette kümmert sich so lieb um mich. Testament. Das Essen ist gut. Heute Konzert. Neue Zähne? Zahlt sich nicht mehr aus. Ich muss auf den Topf. Nein. Hunger. Ich will nicht, Sabine. Aa. Bäh. Auweh. Schwester, lulu. Nein. Vater un…

Mittlerweile wohnt NIX in unseren Gläsern, der Moritz’sche Paradewein. Sechs Monate steht er auf der Maische, ist ungeschwefelt, unfiltriert. Der Wein, er macht sich quasi selber. Klare Frucht, reife Tannine, tolle Länge, bist du g’scheit. Ich klammere mich an das Glas wie ein Koalabär an einen Eukalyptusbaum. Schaue hinüber zu dem Platz, an dem die Fässer lagern. Ein Weinheber hängt an einem Haken an der Wand und wartet auf den nächsten Einsatz, der nicht mehr allzu fern sein kann. ‚Ein Wein ist ein Wein, wenn du beim Trinken vor Glück weinst‘, steht auf einem kleinen Schild geschrieben, das lustvoll von der Decke baumelt. Ich schwenke mein Glas, die Tränen, die verkneif‘ ich mir. Dann mache ich einen letzten, tiefen Schluck.
Und denke mir: man muss genießen können. Das Leben, es vergeht so schnell. Wie nix.

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Bioweingut MORITZ

Die Texte auf der unvergleichlichen ‚Horitschoner Votivtafel‘ stammen von Alfred Moritz.

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