Makellos schwarz

Aus dem Alltag

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Das erste, was ich von ihm sah, waren seine Schuhe. Sie waren blank poliert. Makellos schwarz. Er saß mit dem Rücken zu mir, als ich gerade in die Straßenbahn stieg, hatte lässig ein Bein über das andere geschlagen. Beide ragten sie ein Stück weit in den Gang hinein.
Und da sah ich seine Schuhe.

Ich setzte mich ihm gegenüber, er hatte sofort seine Beine ein wenig angewinkelt, als er mich bemerkte. Mein knappes Wort des Dankes mit einem höflichen Kopfnicken quittiert. Die Straßenbahn stand noch eine kurze Weile in der Haltestelle, der Praterstern in seiner spröden Pracht breitete sich träge vor uns aus. Noch vier Minuten bis zur Abfahrt. Der rechte Fuß des Mannes wippte in einem Takt, der mir verborgen blieb.
Die Schuhe waren wirklich makellos.

Der Rest seiner Erscheinung mochte sich nicht in diesen ersten Eindruck fügen. Seine Jacke war fleckig, die Hose an manchen Stellen arg zerschlissen. Dem Hemd fehlten zwei Knöpfe. Mittlerweile fuhren wir, verließen am Tabor die Nordbahnstraße, schoben uns langsam Richtung Brigittenau. Wie alt mochte er sein? Ich schätzte ihn auf fünfundsechzig. Es war schwer zu sagen. Er hatte schütteres, graues Haar.
Und Augen, die unendlich müde wirkten.

Links lag der Augarten und rechter Hand die tristen Reste des Frachtenbahnhofs, öd, weit und unzugänglich. In naher Zukunft schon würden sie Geschichte sein, weitgehend unbetrauert, bald vergessen. Der Kopf des Mannes war nach vorne gereckt, als wäre er ein Raubvogel auf Beutezug, doch seine Augen suchten keine Opfer. Die Nase trug geduldig ein verwegenes Gespinst aus roten und blauen Äderchen. Sein Blick verlor sich in der Ferne.
Eine Frau in ihren Dreißigern kam von hinten den Gang entlang, wollte seinen Beinen ausweichen. Und obschon er nahezu apathisch wirkte, zog er mit nicht erwarteter Aufmerksamkeit und ungeahnter Eleganz seinen Fuß beiseite und schuf der Dame höflich Platz.

Der Kontrast war verblüffend. Die glänzenden Schuhe und die erloschenen Augen, wie mochte das zusammenpassen? Der Augarten zog an uns vorüber, verlor sich schließlich hinter der Wasnergasse. Ein olivgrüner Opel überholte hupend einen Kleinlastwagen, der offenkundig auf der Suche nach einer Parkgelegenheit war. Der Mann mir gegenüber griff mit seiner Linken in die Innentasche seiner Jacke. Holte eine Dose Gambrinus-Bier hervor, sie war bereits geöffnet. Nahm einen kräftigen Schluck, schob sie wieder zurück.
Er sah mich nicht an, ich suchte nicht seinen Blick.

Am Wallensteinplatz verließ er die Straßenbahn. Ich dachte an seine Augen. Es waren die Augen eines Menschen, der aufgegeben hatte. Ich schaute zur Tür, er mühte sich vorsichtig aus dem Wagen. Und da sah ich sie noch einmal, seine Schuhe. Blank poliert, makellos schwarz.
Sie hatte er nicht aufgegeben.

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