Oma

Aus dem Alltag

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Denke ich an meine Großmutter, dann sehe ich, wie sie beim Fenster sitzt und hinabschaut auf unsere Gasse, hinweg über die Weingärten, hinauf zum Wald und hinüber bis zu jener Stelle, wo sich die Bundesstraße in einer sanften Rechtskurve verliert. Ein wenig links davon konnte man deutlich weiter sehen. Wenn man die Augen zusammenkniff, ließ sich die Burg Forchtenstein ausmachen, aber meine Großmutter war schon ein wenig älter, da half die ganze Kneiferei nichts, die Burg blieb ihr verborgen. An klaren Tagen schien der ferne Schneeberg tatsächlich zum Greifen nahe. Man konnte es kaum fassen, wie er es zustande brachte, die ganze Zeit über im Dunst des Horizonts unsichtbar zu bleiben, um dann mit einem Mal die prächtige Hintergrundkulisse für ein Landschaftsgemälde abzugeben, das von Gottfried Kumpf hätte sein können. Nur der Asoziale war partout nie zu finden.

Es ist merkwürdig, dass das Bild meiner Großmutter, das sich in meiner Erinnerung verfestigt hat, ein beinahe statisches ist. Ich sehe eine grauhaarige Frau, klein und gebeugt, wie sie die letzten Jahre ihres Lebens im Sitzen verbringt. Nie steigt sie die Stufen hinab ins Erdgeschoß, wo meine Eltern, mein Bruder und ich gewohnt und das wohl nicht untypische Leben einer Siebzigerjahre-Kleinfamilie geführt haben. Ich habe keine Erinnerung, wie sie mit mir im Garten spielt oder uns auf Ausflügen begleitet. Sie muss eine kranke Frau gewesen sein, aber der kleine Bub, der ich war, erkannte das nicht und wollte es wohl auch nicht wahrhaben.
Denn sie war die einzige Oma, die ich je kannte.

Der Krieg, der Krebs und der Alkohol hatten mir meine anderen Großeltern genommen. Genau in dieser Reihenfolge und lange vor meiner Geburt. Meine Großmutter väterlicherseits hatte es als einzige geschafft, sich den Fährnissen der bewegten Zeiten soweit zu widersetzen, dass sie meine Kindheit erleben und ein gutes Stück begleiten konnte. Ich bin ihr dankbar dafür. Ich hätte sonst nicht gewusst, was es heißt, eine Oma zu haben.
Ich weiß bis heute nicht, wie es sich anfühlt, mit einem Opa zu spielen.

Die Welt lag ihr zu Füßen, wenn meine Großmutter aus dem Fenster sah. Und wie so viele Menschen ihrer Zeit wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, ihre vertraute Umgebung zu verlassen. Wozu auch? Ihr Mann musste sie sehen, diese große, weite Welt. Mehr, als ihm lieb war. Es war eine organisierte Gruppenreise, auf die ihn ein anderer Österreicher geschickt hat, und gebracht hat sie ihn bis auf die Krim. Geendet hat sie dann an einem Februartag des Jahres 1945, in einem Waldstück unweit von Budapest. Was von ihm blieb, ist ein Name auf einem Gedenkstein.
Und seine zwei Kinder. Mein Vater war noch keine zwölf.

Obwohl meine Großmutter nicht gesund war, verbrachte ich doch viel Zeit mit ihr. Ihre Bewegungsfreiheit mochte eingeschränkt gewesen sein, ihr Geist und ihr Wesen waren es nicht. Wir lasen miteinander und ich fühlte mich gefordert. Wir redeten miteinander und ich fühlte mich ernst genommen. Aber am meisten liebte ich es, neben ihr auf der schmalen Fensterbank zu lehnen, die Ellbogen und Unterarme auf kleinen Polstern gebettet, damit sie auch nach einer Stunde noch nicht schmerzten. Wir sprachen nicht viel und sahen einfach hinaus. Auf unsere Gasse, über die Weingärten, wo ab und an ein Rebhuhn zu sehen war. Hinauf zum Wald oder hinüber zu jener Stelle, wo sich die Bundesstraße in einer sanften Rechtskurve verlor.
Und manchmal, an ganz klaren Tagen, schien der Schneeberg zum Greifen nahe.

Es war ein Tag im Mai 1980. Ich kam gerade von der Schule nach Hause, ging langsam unsere Gasse hinauf. Trödelte ein wenig, wie es Neunjährige eben so tun. Schon von weitem sah ich meine Mutter vor unserem Haus stehen. Sie wartete auf mich.
Sie hatte mir etwas zu sagen.

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