Alltag in der Megacity

Shanghai

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Wo ist sie jetzt schon wieder hin, grad eben war sie doch noch da? Zugegeben: sie hat etwas gemurmelt, das ich wie üblich nicht verstanden habe, dann hab ich mich schnell umgedreht, um mit Brigitte und Phil einen Treffpunkt auszumachen. Und plötzlich war sie weg.
Aber wir stehen ja bloß im größten Tempel von Shanghai, rings um uns die halbe Stadt, so scheint’s. Da wird die Familienzusammenführung wohl kein großes Problem sein.

Ich drehe mich langsam um die eigene Achse. Hunderte Menschen verbeugen sich, Räucherstäbchen in den Händen, flott in alle Himmelsrichtungen. Der ganze Hof ist voller Qualm. Das Schild, das gleich neben dem Eingang humorlos die Einhaltung des Rauchverbots einmahnt, ist kaum mehr zu erkennen. Aus den Lautsprechern tönt Musik, die dezent zu nennen verwegen wäre. Brigitte und Phil verschwinden gerade hinter dem ersten Tempelgebäude, eine Taube landet auf einem Dachvorsprung und reckt den Hals nach vor, als würde sie sich ebenfalls verneigen wollen. Eine junge Frau wirft eine Münze in ein Gefäß, das vielleicht drei Meter in der Vertikalen misst und dessen Öffnung in bemerkenswerter Höhe liegt und man hört das unverkennbare Geräusch, als Metall auf Metall trifft. Ein Mann bleibt direkt vor mir stehen und verbeugt sich Richtung Tempel. Doris ist nirgendwo zu sehen. Ich gehe um das Gebäude herum, dahinter liegt ein weiterer Hof.
Er gleicht exakt dem ersten.

Wo sind denn jetzt bloß alle? Das gibt’s ja nicht, ich bin doch nur drei Schritte Richtung Tempel gegangen und gesagt hab ich’s ihnen auch. Da steht ein richtig schönes Gebäude mit einem riesigen goldenen Buddha drin und einer mächtigen Warteschlange davor – ja klar muss ich dort hin, das sieht man doch nicht alle Tage. Und ein Hörtest würd‘ ihm, glaub ich, auch nicht schaden, ich will ihn ja nicht ständig anbrüllen müssen wie ein grantiger Löwe seine aufdringliche Brut.
Ich drehe eine Runde durch den Hof, die drei sind nicht mehr hier. Eine Münze fliegt mir auf den Kopf, bevor sie elegant zu Boden fällt und mit hellem Klang und immer engere Kreise ziehend vor meinem rechten Fuß zur Ruhe kommt. Um einem weiteren Geldregen zu entkommen, bewege ich mich vom Zentrum weg und laufe direkt in die Räucherstäbchen einer alten Frau, die sich erstaunlich wendig nach vorne beugt.
Asche auf mein Haupt.

‚Da bist du ja, wo warst denn die ganze Zeit?‘, frage ich unbekümmert, als ich in den ersten Hof zurückkehre. ‚Und warum bist du eigentlich voller Asche?‘
Doch ihre Antwort wird von der alles durchdringenden Musik fortgetragen wie ein Sandkorn vom Sturm und von den Tränen, die sie lacht, verschluckt.

Shanghai ist kein kleines Dorf, groß sind auch seine Klöster. Und sie sind gut besucht. In den Bäumen hängen bunte Zettel, befüllt mit Wünschen oder Segenssprüchen, die Götter haben viel zu tun. Im Inneren der Tempel liegen Opfergaben. Ein Amulett, eine Orange, eine Schale Reis. Teigtaschen, in denen Räucherstäbchen stecken. Votivtafeln zieren ganze Wände. Auf ihnen wird um die Genesung von einer Krankheit gebeten. Um Nachwuchs. Oder Reichtum.
Der alte Glaube wirkt auch in der neuen Welt noch höchst lebendig.

Wir betreten den Park durch den Rosengarten und der satte Duft der Blumen hüllt uns augenblicklich ein. Es ist Sonntagnachmittag und wer nicht andernorts gebraucht wird, der hält sich jetzt im Freien auf. Ein Mann mit Sonnenbrille, Mikrofon und einem breiten Lächeln im Gesicht singt auf einer Parkbank Karaoke. Zwei Europäer spielen auf der Rasenfläche Frisbee, ein Stück weiter übt sich eine kleine Gruppe unter praller Sonne im Schattenboxen. Vor einem Denkmal von Karl Marx und Friedrich Engels lässt ein kleines Mädchen Seifenblasen steigen.

Wir setzen uns auf eine Treppe. Neben mir klettert ein Bub, drei Jahre alt vielleicht, die Stufen hinauf und hüpft seiner Mutter von einem niedrigen Podest aus in die Arme. Immer und immer wieder. Er lacht ganz aufgeregt, sie wird nicht müde.
Weiter hinten im Park wird auf den Wegen getanzt. Meist paarweise, zwei Männer tanzen auch allein. Bei einem bin ich mir nicht sicher, ob er nicht doch Gymnastik macht. Einer der Tänzer trägt einen Pyjama.

Vor einem kleinen See stehen vier kreisrunde Bänke. Alle sind bis auf den letzten Platz mit Kartenspielern gefüllt, Zuseher drängen sich in akkurater Formation in zweiter Reihe. Niemand scheint von uns Notiz zu nehmen, das Spiel ist eine ernste Sache. Wir setzen uns auf einen flachen Stein am Ufer des Sees und essen ein Stück Schokolade. Zwei Kois beäugen uns ganz aufmerksam und hoffen wohl auf leichte Beute. Ein alter Mann übt sich im Rückwärtsgehen.

Am Weg, der noch ein Stück den See entlang und dann zum Ausgang führt, sitzt eine Frau. Vom nahen Hügel herab, dem Blick durch dichten Bambus verborgen, klingt chinesische Musik.
Die Frau beginnt spontan dazu zu singen, als wir an ihr vorübergehen.

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