Die Münze

Aus dem Alltag

Written by:

Views: 1241

‚Schau‘, sagte er und zeigte mir eine Münze. Ich war fünf und schauen so ziemlich das Beste, was ich konnte. Obwohl ich einigermaßen kurzsichtig war, was im Nachhinein vielleicht ein schiefes Licht wirft auf meine sonstigen Fähigkeiten. Aber wenn man fünf ist, was weiß man da schon über sich und die Welt? Ich griff nach der Münze.
Und schaute.

‚Die hat mein Opa im Garten gefunden‘, sagte Roland. Roland war ein dicker Bub mit Ohren, die so aussahen, als würden sie ständig als Haltegriffe benutzt. Ich konnte ihn gut leiden. Er war jemand, der einen in Ruhe ließ, wenn man in Ruhe gelassen werden wollte, und der einen beachtete, wenn man etwas zu sagen hatte. Zu sagen hatte ich aber ohnehin kaum etwas. Ich war ein stilles Kind.
Ich schaute lieber.

Die Münze lag leicht in meiner hohlen Hand. Sie mochte einmal rund gewesen sein, jetzt war sie es nicht mehr. Ich kniff die Augen zusammen. Die Inschrift auf der Vorderseite war arg verwittert, die Buchstaben kaum zu erkennen. Dann fielen mir zwei Dinge gleichzeitig ein. Dass ich nicht wissen konnte, ob das, was ich gerade sah, tatsächlich die Vorderseite war. Und dass die Sache mit den Buchstaben ohnehin noch schwierig war, mochten sie nun verwittert sein oder nicht.

‚Mein Opa sagt, die ist nichts wert‘, meinte Roland und steckte seine beiden Hände tief in die Hosentaschen, als würde er dort nach weiteren Münzen suchen. Nach solchen, die etwas wert wären. Aber die sei doch alt, meinte ich. Älter wahrscheinlich als die Billes Maria, die immer auf der Bank direkt unter ihrem Küchenfenster saß und uns Kindern jedes Mal ein Lächeln aus ihrem zahnlosen Mund schenkte, wenn sie uns sah. Zuckerl wären uns lieber gewesen. ‚Ich weiß auch nicht‘, sagte Roland und kratzte sich konzentriert am Hinterkopf, als könnte uns das weiterhelfen.
Ich schaute wieder auf die Münze. Der Mann, der dort abgebildet war und eine ganz komische Frisur hatte, sah aus großen Augen nach rechts aus der Münze hinaus. Vielleicht macht er ja so große Augen, weil ihm die Buchstaben so nahe kommen und er Angst hat, dass ihm die gleich ins Gesicht fliegen, dachte ich mir und merkte, wie die Kindergärtnerin in unsere Richtung schaute. ‚Merkwürdig ist das‘, sagte ich zu Roland. ‚Da wollen die Erwachsenen immer, dass du nicht zu laut bist und wenn du dann fünf Minuten still bist, ist ihnen das auch nicht recht.‘

Wir taten ganz geschäftig und liefen zwei Runden durch den Garten. Das schien die Kindergärtnerin zu beruhigen und wir verloren ihre Aufmerksamkeit. Dann schlichen wir ins Haus, in den Raum, wo unsere Kästchen standen und setzten uns auf die Umkleidebänke. Ich wählte demonstrativ den Platz mit der Kirsche. Der Spind mit der Kirsche war immer mein Favorit gewesen, aber bekommen hatte ich ihn natürlich nicht. Die Kirsche war begehrt. Mir blieben die Fische, obwohl wir zu Hause doch praktisch nie Fisch aßen.
Wahrscheinlich fühlten sich die Fische einfach sicher bei mir.

Ich drehte die Münze um und betrachtete die Rückseite. Oder war es die Vorderseite? Ein anderer Mann stand dort, diesmal sah man den ganzen Körper. In seiner Linken hielt er etwas, das aussah wie eine Fahne oder ein besonders schöner Wanderstab. Vielleicht hat er den ja bei einem Fit-mach-mit-Marsch gewonnen, weil er am weitesten wandern konnte. Mein Papa war da nicht so ambitioniert. Er hat immer gesagt, sein Vater sei schon genug gewandert für uns alle in der Familie, weil der hat bis in den Kaukasus gemusst und zurückgekommen ist er auch nicht mehr. Dabei wusste ich nicht einmal, wo der war. Der Kaukasus.
Ich wusste nur, dass der so weit weg war, dass man von dort nicht mehr nach Hause fand.

‚Komisch angezogen ist er‘, sagte ich zu Roland, der neben mir saß und auf sein rechtes Schuhband starrte, das aufgegangen war. Er machte keine Anstalten, es zuzubinden. ‚Ja, so einen Kittel haben sie früher angehabt, hat mein Opa gesagt‘, meinte er und nahm mir die Münze aus der Hand. ‚Aha‘, sagte ich und tat recht wissend. ‚Und wer waren die mit den Kitteln? Hat das dein Opa auch gesagt?‘ ‚So Römer halt, hat er gemeint‘, sagte Roland. Er gefiel sich in der Rolle des Weltbürgers. ‚Ich dachte, die haben Lire‘, warf ich ein. Ich hatte keine Ahnung, wo ich das aufgeschnappt hatte, meine Eltern waren nie weiter gekommen als bis Mönichkirchen.
‚Da siehst du’s‘, triumphierte Roland. ‚Kein Wunder, dass mein Opa gesagt hat, dass die Münze nichts wert ist.‘

Sprach es, ließ die Münze in seine rechte Hosentasche gleiten, drehte sich um und lief hinaus in den Garten, wo er sich auf die nächstbeste Schaukel stürzen wollte.
Ich blieb sitzen und schaute, denn schauen war so ziemlich das Beste, was ich konnte. Und sah, wie er nach zehn Schritten über sein Schuhband stolperte und kopfüber im Gras landete.

Verwandter Artikel:
Gedenken

Comments are closed.