Die Sternenseherin

Gastbeiträge

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So legt euch denn ihr Brüder, in Gottes Namen nieder; kalt ist der Abendhauch. Verschon uns Gott! mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen! Und unsern kranken Nachbarn auch!

Marie hörte die Worte, aber sie sah niemanden. Da summte und sang eine Frau das Abendlied der Sternenseherin Lise. Oder war es Lise selbst, die irgendwo hinter Marie im Dunkeln stand und ihr Lied sang: Ich werf’ mich auf mein Lager hin und liege lange wach. Und suche es nach meinem Sinn, und sehne mich danach.
Marie stand an der Bushaltestelle und fühlte sich, als würde der Bus, auf den sie wie jeden Abend wartete, niemals kommen. Als stünde sie mit der Sternenseherin Lise allein an dieser Straßenecke und schaute zu, wie der Linienbus ohne sie abfuhr. Wie sie hinterherschaute. Wie das Wasser von den Reifen auf ihren Mantel spritzte. Sie sah ihr Spiegelbild in den Busfenstern vorbeigleiten. Sie sah die Fahrgäste im Inneren, wie sie Zeitungen aufschlugen, ihren Kaffee tranken, Musik hörten oder sich unterhielten. Sie erkannte ihre Kolleginnen aus dem Supermarkt, ihren Chef, den Anwalt aus der Kanzlei von gegenüber. Sie winkte, aber niemand sah sie.

Marie rief. Der Bus fuhr den Hügel hinunter, vorbei an der Waschanlage. Längst geschlossen. Vorbei an der Tankstelle. Vierundzwanzig Stunden geöffnet. Marie hatte sich schon oft gefragt, wer nachts um drei dort tankte. Wie immer bremste der Fahrer am Ende der Straße, ehe er links auf die Hauptstraße Richtung Innenstadt abbog. Die Bremslichter leuchteten zweimal kurz auf, dann war der Bus verschwunden. Ihr Bus, mit dem sie jeden Abend nach Hause fuhr. Marie, Archäologie studiert, abgebrochen, zuständig seit zwei Monaten für das Einräumen der Regale in der Frischeabteilung. Von Butter bis Käse. Von bretonischen Biohühnchen bis Serrano-Schinken. Acht Stunden lang behielt sie alle Kühlregale und Tiefkühltheken im Blick und bestückte sie mit neuer Ware. Zeichnete aus, sortierte, holte Ware aus dem Lager. Fror und schwitzte. Immer freundlich, niemandem im Weg.
Marie hatte keine Ahnung, wo und wie das enden sollte.

Dann saget, unterm Himmelszelt, mein Herz mir in der Brust: Es gibt ’was Bessers in der Welt als all ihr Schmerz und Lust.
Marie hörte die Worte, aber wo versteckte sich die Sängerin Lise? Und wo war ihr Bus? Warum stand sie an der Haltestelle und hatte dem Bus nachgesehen? Wo waren all die anderen, die sonst mit ihr warteten? Marie reckte den Hals, schaute in den Himmel: Werfen die Sterne Schatten? Sie wusste es nicht. Und sie sah auch nicht, wie die Sternenseherin Lise sich neben Marie stellte: Warten Sie auf den Bus?
Ja, sagte Marie erschrocken. Und sah die Kegel der Scheinwerfer oben auf der Straße. Ich bin neu hier, sagte Lise. Meine erste Fahrt heute. Mein erster Tag. Ich bin für die letzte Kasse zuständig. Die an der Wand. Springerin. Der Bus kroch durch den Regen. Schnaufend öffneten sich die Türen. Marie und die fremde Frau stiegen ein. Marie erschrak: Sie waren die einzigen Fahrgäste. Die Türen schlossen sich mit einem Knall.
Marie schaute nach draußen. Da standen ihre Kolleginnen, lachten, redeten. Der Anwalt aus der Kanzlei von gegenüber. Marie schlug mit der Hand gegen die Scheiben.
Ich sehe oft um Mitternacht, wenn ich mein Werk getan und niemand mehr im Hause wacht, die Stern’ am Himmel an. Lise sang leise und setzte sich neben Marie. Wo fahren wir hin, fragte Marie. Sterne werfen Schatten, antwortete Lise.
Deshalb müssen wir einen Umweg machen.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020) und „Als Queen Elizabeth II. Schnaps im Hafen von Marne trank“ (Geest-Verlag 2018).
J. Monika Walther
Geest-Verlag

Die ersten Zeilen stammen aus dem „Abendlied“ von Matthias Claudius („Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar …“). Des Weiteren Zitate aus „Die Sternseherin Lise“ von Matthias Claudius.

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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