Dorf. Früher.

Gastbeiträge

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Früher, viel früher und noch früher. Früher. Als Gott die Dörfer noch liebte. Bevor er die Leute und ihre Kirchen alleine ließ. Mit dem Trinkschnaps, ihren Wünschen und Missetaten. Als die Kähne mit Torf, Kartoffeln und Korn durch die Felder getreidelt wurden, als die Wege noch weit und die Nachbarn nah waren; bevor der Lauf der Dinge sich änderte und die Menschen sich Flügel kauften, sie ausbreiteten und feststellten, dass diese Flügel nicht über die inneren und äußeren Abgründe trugen und nicht in einen neuen Himmel. Bevor alle zu Produzenten, Taschenrechnern, Käuferinnen und Konsumenten wurden. Bevor Geld wichtiger war, als der Geruch der Erde, der Geschmack der Milch und der geschlagenen Butter. Als viele kleine Dinge und Fähigkeiten das Leben bestimmten. Als fast alle noch miteinander redeten. Bevor Logbücher für Milchtanks eingeführt und den Tieren Chips in die Ohren geknipst wurden. Bevor Zahlen und Buchhaltung die Leben bestimmten. Gewinn und Verlust, Waren und Dienstleistungen. Bevor der Sumpfvogel, die Zwerggans und der Reiher unter Naturschutz gestellt und auf einer Tafel beschrieben wurden. Bevor die Arbeit mit dem Körper und den Sinnen abgelöst wurde durch die Arbeit mit Kalkül und Geldscheinen. Bevor die Zahl der Bauern und Landarbeiter immer geringer wurde. Die der Städter immer mehr und die Stadtmenschen überall zu finden waren. Auch auf dem Land. Ein Sack Orangen. Ein Kilo Bananen. Chicken Wings und geschälte, geschnittene Kartoffeln. Blasser Zuchtlachs in der Plastikschale, Muscheln aus Asien. Tiefgefrorenes Billigfleisch. Billiger, mehr. Mehr. Mehr Geld. Illusionen statt Bedeutung. Die Farben des Landes: grün, bräunlich und grau. Verschwunden: Gerste, Flachs, Hopfen, Hafer, Dinkel, Buchweizen. Dafür künstlich angelegte Dörfer, Kleinidyllen aus Rigips, ländliche Theaterkulissen – zum Verkauf an reiche Städter.

Früher. Bevor aus der Stille über dem flachen Land stete Unruhe und es laut wurde: Maschinen, Autos, Laster. Dann der Weltkrieg und seine neue Ordnung. Noch mehr Maschinen. Welche Leben werden geführt? Zwischen den harten Linien der Landschaft, im weichen schimmernden Licht des Himmels. In den engen Neubausiedlungen an den Dorfrändern. Psst. Seid leise Kinder, kehrt die Scheidungen und Schläge unter das falsche Parkett.

Ich stehe am Fluss. Ein Fischreiher landet. Ein doppeltes Dreieck Gänse segelt über mir, rufend, singend, auf der Suche nach einem grünen Feld. Der Geruch von Erde, Gras, Wasser und Schlick. Der Himmel eine geputzte Schiefertafel. Ich pflücke Honigorchideen und fange mir eine Gans mit glänzend weißen Wangen. Ich fliege nach Hause und öffne die Tür. Guten Tag sage ich zu der Frau im Haus und gebe ihr die Orchideen. Die Gans flattert über die Straße, fliegt auf, landet am Fluss mitten zwischen den Sumpfherzblättern. Und ich erinnere mich wieder an mich. Früher.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Nachtzüge. Gedichte und gefundene Zettel“ (Geest-Verlag 2021), „Der Mann ohne Hände“ (zusammen mit Monika Detering, Geest-Verlag 2020), und „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020).
J. Monika Walther
Nachtzüge

2023 erscheint: Fluchtlinien

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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