Fernweh

Gastbeiträge

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Der 13. August 1961 war mein letzter Sommertag im Kinderferienlager an der Ostsee. Ich war zwölf Jahre alt, lag versteckt zwischen den Dünen, sah dem im leichten Seewind sich wiegenden Seegras zu, den ziehenden Wolken, lauschte dem Wellenrauschen. Dann richtete ich mich auf, schaute über das weite Meer bis zum fernen Horizont. Dorthin wollte ich, hinaus in die Welt, fremde Länder entdecken. Das wollte ich schon, solange ich denken konnte.
Doch dass ich dazu meine Heimat verlassen müsste, lag mir fern.

Im Gegenteil, ich war mit dem Glauben aufgewachsen, dass unsere Deutsche Demokratische Republik der beste Staat auf Erden sei. Von meinen Eltern und in der Schule war ich darin bestärkt worden. Ich war wütend über Menschen, die unser Land einfach im Stich ließen, wie der Arzt, der einzige, den wir in unserem Städtchen hatten. Er sei in den Westen abgehauen, hieß es, als er plötzlich nicht mehr da war. Auch zu Beginn jeden Schuljahres fehlten immer einige Mitschüler, die mit ihren Eltern unser Land illegal verlassen hatten. Mein Vater tröstete mich: „Um die ist es nicht schade. Wir werden auch ohne sie das ‚Paradies auf Erden‘ aufbauen.“

Ich sah von meinem Versteck aus, wie die Kinderschar sich am Strand zum Zug sammelte, um ins Lager zu marschieren. Schnell gliederte ich mich ein. Froh, dass die beiden Erzieherinnen nicht auf mich achteten. Sie flüsterten verstört miteinander. Neugierig, wie ich war, lauschte ich, und hörte: „Oh, schlimm. Die Grenze ist zu! In Berlin gibt es eine Mauer! Niemand kann mehr weg!“ Ohne zu überlegen, rief ich laut: „Ist doch gut! Da kann wenigstens keiner mehr abhauen!“ Erschrocken zuckten die beiden zusammen und beeilten sich, mir zuzustimmen.
Wie hätte ich damals ahnen können, dass ich wenige Jahre später mein Leben riskieren würde, um genau das zu tun, was ich damals verurteilte?

Doch inzwischen hatte ich erfahren müssen, dass nichts, rein gar nichts, von dem stimmte, was man mir als Kind erzählt hatte. Der falsche Schleier war zerrissen, der mich in meiner Kindheit von der Wirklichkeit getrennt hatte.

Carmen Rohrbach, geboren in Bischofswerda. Biologie studiert und von der Neugier auf die Welt gepackt. Wegen des Versuchs, der DDR zu entkommen, zwei Jahre inhaftiert. Von der Bundesrepublik freigekauft, promovierte sie am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie. Erhielt einen Forschungsauftrag, der sie auf die Galapagos-Inseln führte. Lebte ein Jahr lang auf einer kleinen Insel, unter Meerechsen und der Sonne des Äquators. „Inseln aus Feuer und Meer“ entsprang dieser Erfahrung, zahllose Bücher folgten.
In ihren Büchern lässt sie die Leser Anteil nehmen an ihren abenteuerlichen Reisen nach Südamerika, Afrika, Asien, Arabien. Seit vielen Jahren zählt sie zu den populärsten deutschen ReiseschriftstellerInnen.
Zuletzt erschienen: Wildes Kasachstan – Auf der Fährte des Sibirischen Steinbocks, National Geographic / Malik, 2021
Carmen Rohrbach

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Carmen Rohrbach, die Bildrechte bei Rumen Milkow.

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