Polarweiß

Aus dem Alltag

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Sollte sich jemals das Konzept des personalisierten Fegefeuers durchsetzen, mein Purgatorium wäre ein Baumarkt. Fassungslos stehe ich in der Farbenabteilung und starre auf eine Fülle von Weiß, die ich nicht vermutet hätte. Universalweiß, Polarweiß, Arktisweiß, Ultraweiß. Sogar Wohlfühlweiß ist im Angebot, was ich als puren Hohn empfinde.
Als ob ich mich in Gegenwart eines Kübels voller Farbe wohlfühlen könnte.

Ich zucke mit den Schultern und frage den nächstbesten Verkäufer um Rat. Der hebt beide Arme, dreht die Handinnenflächen nach oben und die Daumen nach außen, legt den Kopf in den Nacken und schaut kurz an die Decke. Vielleicht hält er inne und ruft den Gott des Baumarkts an, denke ich mir, ich bin mit den sakralen Gewohnheiten des handwerklich begabten Teils der Bevölkerung wenig vertraut. ‚Ich bin von der Gartenabteilung‘, sagt er dann und verschwindet ohne weiteren Kommentar den Gang hinunter.

Anderes Personal ist keines in Sicht, also entscheide ich mich nach reiflicher Überlegung für Polarweiß. Klingt doch gut, finde ich, und schließt im Gegensatz zu Arktisweiß nicht gleich im Vorhinein eine ganze Hemisphäre aus. Dann suche ich das Abstreifgitter, die beiden Farbroller in verschiedenen Größen, das fünf Zentimeter breite Abdeckband und entdecke Dinge, von deren Existenz ich bislang nichts geahnt habe. Nach etwa einer halben Stunde habe ich alles beisammen, ich bin mächtig zufrieden mit mir. Dass die beiden kernigen Männer, die nach mir die Farbenabteilung betreten haben, mittlerweile den Einkauf für die Renovierung einer gesamten Wohnhausanlage erledigt haben, stört mich weiter nicht.

Im Außenbereich des Baumarkts komme ich an einer Frau vorbei, die ein mageres Pflänzchen durch die Gegend trägt. ‚Sagen Sie, was kostet das?‘, fragt sie forsch die Verkäuferin, die bei den Teleskopleitern steht und sich die Hände an einem grauen Lappen abwischt. ‚Was angeschrieben steht‘, entgegnet diese, setzt ihre Maske auf, dreht sich um und verschwindet im Inneren des Baumarkts.
Ist Wien nicht großartig?, denke ich mir, als ich die Autotüre schließe. Dann nehme ich den Mund-Nasen-Schutz aus meinem Gesicht, hänge ihn über den Innenspiegel und starte den Polo.

‚Ich glaube, es ist besser, wenn ich die Wand streiche‘, sagt Doris und ich bin ihr nicht gram. Also begnüge ich mich damit, umständlich den Farbkübel zu öffnen, was mein technisches Verständnis an seine Grenzen zwingt, und das Anti-Schimmel-Mittel in der Farbe zu verrühren. Doris hat in der Zwischenzeit aus einem Bogen Zeitungspapier einen Hut gefaltet, der ihr ganz ausgezeichnet steht. Ich frage mich, ob ich das auch noch schaffe, und beobachte fasziniert, wie meine Finger die vertrauten Bewegungen der Kindheit mühelos abrufen. Erstaunt stelle ich fest, dass ich einen Papierflieger in Händen halte, dessen Optik von fragwürdiger Ästhetik ist. Ich schieße ihn quer durchs Wohnzimmer, wo er nach eineinhalb Sekunden Flugphase unter dem Bücherregal zu liegen kommt. ‚Sind wir’s dann?‘, fragt Doris und hebt die Arme, dreht die Handinnenflächen nach oben und die Daumen nach außen.

‚Eine Rolle, die nicht rollt, hat ihren Namen nicht verdient‘, sage ich und erfreue mich an meinem bescheidenen Wortwitz, trage ansonsten aber nichts zur Lösung des Problems bei. Doris schaut mich an und sagt kein Wort. Ich entschuldige mich kurz, gehe die Treppe hinunter und mache uns zwei Tassen Tee. Dann wechsle ich zum Bücherregal, greife nach dem Papierflieger und aktiviere den iPod. Und während ich unauffällig ins Schlafzimmer zurückkehre, schmettern mir Bruce Springsteen und die E Street Band die ersten Takte von ‚Glory Days‘ hinterher.

Oben hat Doris das Problem mit dem nur widerwillig rollenden Farbroller mittlerweile ohne mein Zutun gelöst. Es ist ja alles eine Frage der richtigen Technik, stelle ich zufrieden fest. Ich manövriere mich an den Kästen vorbei, die immer noch wie vergessliche Trolle im Raum stehen, und schaue Doris dabei zu, wie sie gerade die linke hintere Ecke streicht. Eigentlich könnte ich ein paar Fotos machen, denke ich mir, da wird sie sich sicher freuen. Später halt.
Viel später.

Als ich wieder im Zimmer stehe, taucht Doris gerade die große Rolle in den Kübel, streift sie fachgerecht am Gitter ab und tropft weiße Farbe auf meine rechte Socke. ‚Hoppala‘, sagt sie und lächelt. Ich schaue blöde auf meine Socke, erringe aber rasch wieder die Kontrolle über meine Mimik und lächle zurück. Ich finde es erfreulich, eine zufriedene Frau im Haus zu haben.

Schön ist sie geworden, die Wand, und aufschlussreich die Renaissance der Erkenntnis, wie man einen Papierhut faltet. So ein Tag bietet ja mannigfaltige Herausforderungen, da hat man kaum noch Zeit, sich mit einer Pandemie herumzuschlagen. ‚Magst du noch ein Glas Wein?‘, frage ich Doris, die neben mir sitzt und müde auf ihre Finger starrt. ‚Klar‘, sagt sie. ‚Kann ruhig ein großes sein.‘
Endlich eine Aufgabe, die ich hinkriege.

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