Vergänglich

Aus dem Alltag

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So fühlte es sich also an, dachte er. Alleine am elterlichen Küchentisch sitzen, an dem man zahllose Stunden verbracht, viel zu viele Sätze nicht gesagt hatte. Der nun leer war, kein Teller stand darauf, keine Zeitung lag da, das Kreuzworträtsel halb ausgefüllt. Er strich mit der rechten Hand über die Tischplatte, fuhr über einen kleinen Saucenfleck, den die Mutter übersehen hatte beim Abwischen. Die Augen, sagte sie immer. Sagte es immer öfter.
Zweiundvierzig Jahre, dachte er. Der Tisch war zweiundvierzig Jahre alt.

Er sah zu Vaters Platz, der noch leerer schien als die anderen. War das möglich?, fragte er sich. Dass ein Ort einen Menschen vermissen konnte? Draußen heulte ein Motor auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Er atmete tief durch. Schaute auf die Uhr des alten Elektroherds, die vor zwei Jahrzehnten um 14:43 Uhr erstarrt war, keiner wusste warum. Niemand wollte es ändern. Sah das Bild an der Wand, ein Stillleben aus diesem Möbelhaus, das es schon lange nicht mehr gab im Ort. Die Farben waren verblasst, die Tapete ringsum vergilbt. Er sah das Fenster, das schon seit Jahren nicht mehr geöffnet wurde, weil es sich nur mit Mühe wieder schließen ließ. Die Zeit, dachte er, zerrt langsam an den Dingen. Aber sie hat kräftige Finger.

Wie still es hier war, dachte er und blieb reglos am Küchentisch sitzen. Einen Augenblick lang war er überzeugt gewesen, dass in diesem Raum die Zeit nicht länger existierte. Es für immer 14:43 Uhr sein würde. Er musste lächeln über diesen Gedanken, er gefiel ihm. Spendete ein wenig Trost. Der Mann saß noch eine ganze Weile am Tisch.
Als er aufstand, wusste er, wie sie klang. Die Ewigkeit.

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