Die singende Sophie
- November 04, 2025
- by
- Sabine Göttel
Ich war zehn Jahre alt, als ich zu Weihnachten endlich eine sprechende Puppe bekam. Ich nannte sie Sophie. Meinen neuen Kameradinnen vom Gymnasium erzählte ich nichts von Sophie, denn für eine große Puppe war ich eigentlich schon viel zu alt. Mit zehn wollte man in der Schule neben Jungs sitzen und schwärmte für die Bay City Rollers; seine Puppen hatte man längst an die kleine Schwester der besten Freundin verschenkt. Meine beste Freundin aber war Sophie. Sie hatte lange blonde Locken und trug ein kariertes Minikleid. Es war hinten ein Stück offen, denn Sophie hatte ein Loch im Rücken, in das man kleine, durchsichtige Schallplatten hineinlegte. Sobald man es schloss, erzählte sie Geschichten oder sang. Mein Lieblingslied war: Weißt du, wieviel Sternlein stehehen an dem blauhauen Himmelszelt … Wir sangen es zusammen. Ich nahm Sophie an der Plastikhand, und sie schenkte mir mit ihren gemalten Zähnen ein ewiges Lächeln.
Als mein Vater starb, hatte meine Mutter das Bedürfnis, sich zu verkleinern und einige Dinge loszuwerden. Ich ahnte die Möglichkeit, mich endlich selbst von ein paar Altlasten zu befreien. Also fuhr ich im Weihnachtsurlaub nach Hause und half meiner Mutter, den Dachboden zu entrümpeln. Es dauerte drei Tage, bis wir alles aussortiert, weggeworfen oder für den Transport ins Sozialkaufhaus in Kartons verpackt hatten. Immer wieder legte ich Pausen ein, saß in unbequemer Haltung auf dem Boden, studierte meine Schulhefte, roch an den ranzigen Wachsmalkreiden und prüfte, ob die Lego-Steine noch vollzählig waren, nachdem sie meine Nichten und Neffen aus ihren verlassenen Kinderzimmern zurückgebracht hatten. Ein letztes Mal öffnete ich den Mikroskop-Koffer mit den winzigen Fröschen in Formalin. Und ohne groß nachzudenken, nahm ich auch Sophie und verstaute sie in einem Karton, den ich zuvor mit Holzwolle ausgelegt hatte. Sie sah darin aus wie eine kleine Leiche.
Manchmal sucht mich Sophie in meinen Träumen heim. Sie schüttelt ihr blondes Haar und klimpert mit den schönen toten Augen. Dann ruft sie mich mit ihrem metallenen Stimmchen beim Namen und stakst auf steifen Beinen davon. Und plötzlich bin ich wieder das große Mädchen, das erwachsen werden will und sich vor seinen Freundinnen schämt, weil es noch mit Puppen spielt.
„Die singende Sophie“ wurde am 24.12.2020 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.
Sabine Göttel stammt aus der Saarpfalz. Sie studierte deutsche und französische Literatur, promovierte über Marieluise Fleißer, arbeitete als Theaterdramaturgin und lebt als Autorin, Dramaturgin und Dozentin in Hannover. Für ihre Gedichte erhielt sie 2023 den Feldkircher Lyrikpreis und 2022 den Kurt-Sigel-Lyrikpreis des PEN-Zentrums Deutschland. 2019 war sie Stipendiatin des Printemps Poétique Transfrontalier.
Zuletzt erschienen die Lyrikbände „Grillenliebchen“. Gedichte, Wehrhahn Verlag, Hannover 2023; „Im Gefieder“, Gedichte (2022) und „Geister“, Gedichte (2020) – beide im Röhrig Verlag, St. Ingbert.
Sabine Göttel
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