Das Schneidebrett oder Versuch über die Barmherzigkeit

Das Schneidebrett oder Versuch über die Barmherzigkeit

Thessaloniki, Anfang Oktober 2023. Sie war so schön, dass es weh tat. Sie trug den weißen Frottee-Bademantel, den alle Stipendiaten auf ihrem Zimmer hatten, ihre schwarzen Locken waren noch feucht. Sie setzte sich an den Küchentisch. Sie schwieg, sah hinaus in den begrünten Innenhof. Wir Araber, sagte sie dann, sind doch auch Menschen. Jetzt sah ich, dass sie geweint hatte.

Es war kurz nach dem Attentat der Hamas auf Israel. Sie war in Jordanien geboren, eine koptische Christin. Nicht eigentlich religiös, aber die kirchlichen Rituale hatten ihre Kindheit geprägt. Sie lebte als Dokumentarfilmerin zwischen Amman und Berlin. Gerade hatte sie einen Film beendet, über eine Freundinnen-Clique aus arabischen, kurdischen und Roma Mädchen, die ausgerechnet im nicht eben ausländerfreundlichen Brandenburg erwachsen wurden. Sie fragte die jungen Frauen – manche trugen das Kopftuch der Musliminnen, andere Minirock und Stiefel – nach ihren Träumen, ihren Zukunftsperspektiven.

Wir hätten uns nicht kennengelernt, wären wir nicht zufällig Zimmernachbarinnen gewesen. Getrennte Bäder, gemeinsame Küche.

Stündlich stieg die Zahl der Toten in Gaza.
Israel muss sich verteidigen, sagte mein Mann am Telephon.

In den folgenden Tagen gab es in den Straßen der Stadt immer wieder Demonstrationen. Frauen und Männer trugen die schwarz-weiß-grüne Fahne mit dem roten Dreieck als Schultertuch. Plakate sagten: Free Palestine!

Wir verbrachten einen Tag am Strand. Es war sonnig, aber nicht mehr heiß. Wir tranken aufgeschäumten Nescafé frappé mit Strohhalm und sahen aufs Wasser. Als wir mit dem Schiff über die Bucht zurückfuhren, sprangen Delfine. Schau, sagte sie.

Sie verkroch sich in ihrem Zimmer. Wir kannten uns nicht. Die Zahl der Toten in Gaza stieg, unproportional hoch zu der der Toten in Israel.
Ja, das ist unverhältnismäßig, sagte mein Mann tonlos am Telephon. Aber in Israel gibt es eine Opposition, die das anklagt.
An den Bäumen der Stadt klebten nun Bilder mit Portraits der israelischen Geiseln. Frauen, Männer, Kinder, Babys, vergrößerte Photos aus Familienalben. Fragmente einst glücklicher Momente. (Wann weiß man, wann ein glücklicher Moment ist?)

Sie schloss ihr Zimmer nicht ab. Wenn ich sie länger nicht gesehen hatte, klopfte ich. Wenn sie nicht antwortete, drückte ich vorsichtig die Klinke. Sie lag wie ein Bündel im Bett. Sie hörte mich. Manchmal kam sie dann in die Küche.

Eines Morgens sagte sie, sie fliege nach Amsterdam zu einer Freundin. Die Nägel ihrer langen Finger waren grün lackiert. Ja, sagte sie, sie habe nicht gewusst, was sie tun solle mit diesem Tag, und da sei sie dann in so ein Nagelstudio gegangen.

Es war noch vor der Zeit der Hungersnot in Gaza. Im Netz überflog ich Nachrichten, NZZ, New York Times, Al Jazeera, FAZ. Ich versuchte durch Hintergrund-Artikel eine Orientierung zu bekommen. Ich verlief mich in Widersprüchen.
Willst du das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellen? sagte mein Mann am Telephon.

In einer Nachrichtensendung erzählte ein Reporter von einem fünfjährigen palästinensischen Jungen, der durch einen Bombeneinschlag die Eltern verloren hatte. Und beide Beine. Er setzte darauf, dass die Eltern wiederkämen und seine Beine nachwachsen würden.

Tagelang streifte ich durch die Stadt. Ein Photoplakat mit einem Fuchs auf einem Orientteppich vor einem Wohnzimmersofa brachte mich in ein Zentrum für Pilger, die zum Berg Athos wollten. Es lag an der Via Egnatia, der römischen Straßenschneide von Saloniki, die die Adria mit dem Bosporus verband. Im Erdgeschoss des Gebäudes war eine Buchhandlung, die auch Devotionalien verkaufte, Öle, Kräuter, CDs mit byzantinischen, mit gregorianischen Gesängen. Im zweiten Stock begann die Ausstellung.

Ich sah Bilder, die ich nicht verstand, die mich seltsam anzogen. Stratis Vogiatzis, Jahrgang 1978, hatte auf seiner Geburtsinsel Chios in der Region Kampos photographiert: verfallene Villen, aufgelassene Innenhöfe, arme Häuser, mit jener liebevollen Zuwendung renoviert, die vielleicht nur der Armut möglich ist. Obstgärten, das Gras voller goldener Orangen. Ich las: „Meistens suche ich nach den Überresten einer Ära, den Spuren, die die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart hinterlassen hat. Je mehr ich diese Beimischungen, diese Bruchstücke von Erinnerungen im Raum beobachte, desto durchlässiger werden die Grenzen zwischen realer Zeit und fantastischer Zeit, zwischen Komik und Tragik.“ Ich sehe eine weiße Ziege auf einem überwucherten Sperrmüllareal, die sich im Spiegel eines alten Schranks betrachtet. Ich lese: „Je besser ich einen Ort kenne, desto rätselhafter wird er, als würde sich die Erinnerung, wie ein scheues Geschöpf des Waldes, in seinem Laub verlieren, je näher ich komme.“ In einem langen Flur sitzt auf einem Plastikstuhl ein alter Mann, der vielleicht dement ist. Oder ein Dichter. Ich sehe zwei tote Katzen treiben auf einem Teich.

Als ich durch die Buchhandlung zurück zum Ausgang ging, fiel mir unter den Devotionalien ein offenes Holzkästchen auf. Es steckten Ringe darin, metallene Ringe in Reihen, nach Größen geordnet. Ein Preisschild neben dem Kästchen gab acht Euro an. Ich nahm einen Ring heraus. Da sah ich, dass er einen Schriftzug trug. Langsam entzifferte ich: KYRIE JESOU CHRISTE ELEISON.
Und da war es, als hätte mich etwas geschlagen. Es war ein Schock. Erschreckend und tröstlich zugleich. Was, durchfuhr es mich, kann uns noch retten, wenn nicht ein großes, ein übergroßes, ein irrwitziges Erbarmen. Ein Erbarmen, das uns aufnimmt und in einen Zusammenhang zurückstellt, den wir nie hatten und auf den wir doch zuhalten. So wie wir leben, kann es nicht weitergehen. Etwas ganz und gar Prinzipielles muss sich ändern. Ich verstand nicht, was ich spürte. Aber ich stockte.

Du bist naiv, dachte ich, so was von naiv! Aber wohin, dachte ich weiter, hatte uns unsere Schlauheit, unser Kalkül denn gebracht! Vielleicht verstand ich jetzt die Photographien, die ich gerade gesehen hatte, besser. Der sich den Orten, den Dingen zuwendende Blick des Photographen hatte eine andere Sicht eröffnet, einen dunklen Sinn, eine unverstandene Intimität der Zugehörigkeit, des Mitgefühls.
Ich kaufte einen Ring in Größe 16. Und steckte ihn an meine linke Hand.
Mit was war ich nun unterwegs? Eine Agnostikerin in einer antiken, einer byzantinischen, einer osmanischen, einer jüdischen, einer überhitzten Stadt des 21. Jahrhunderts, die den Terror reflektierte.
Trug ich den absurden Hilferuf nach Barmherzigkeit am Finger? Die verrückte Hoffnung, dass im Barmherzigsein ein Spurenelement von Zuversicht liegen könne?

*

Was ist Barmherzigkeit? Zunächst ist es ein altes Wort. Wer braucht es denn noch im alltäglichen Gespräch! Das deutsche „Barmherzigkeit“ ist eine mittelalterliche Übersetzung des lateinischen „misericordia“ (das „miser“, arm, elend, und „cor“, Herz, verbindet); es geht auf gotisch „armahairts“ zurück, auf althochdeutsch „armherzi“ und mittelhochdeutsch „barmherzic“. Im altgriechischen „éleos“, das der Verbform „eleíson“, erbarme dich, zugrundeliegt, steckt „eleón“. „Eleón“ ist ein Schneidebrett. Jemand ist barmherzig, weil es ihm das Herz zerschneidet angesichts der Not, des Jammers. Auch die Elegie, das Klagelied, geht auf diesen Wortstamm zurück. Im Hebräischen wäre der Begriff für Barmherzigkeit „Rahamin“. Darin steckt „rachas“, das meint mütterlich sein, und „chanan“, sich herabneigen. „Rähäm“ ist der Mutterleib. Und ganz ähnlich geht das arabische Wort für Barmherzigkeit „Rahmah“ auf den Wortstamm „Arham“, Mutterschoß, zurück. Beide Sprachen vermitteln dieselbe Idee von leiblicher Geborgenheit. Und wir sehen, dass auch im schönen „armherzi“ und seinen Varianten das Wort „arm“ steckt, dem nicht nur das Armsein, das Elendsein, zukommt, sondern auch, vielleicht in falscher Etymologie, die Geste des Umarmens. Und kann nicht eine falsche Etymologie einen offenen Weg zeigen?

Alle drei abrahamitischen Religionen, das Judentum, das Christentum, der Islam, sehen Gott als eine unerhörte Gestalt der Barmherzigkeit. Als der Barmherzige gibt sich Gott auf dem Berg Sinai Moses zu erkennen. Jesus von Nazareth, für die Christen der Messias, der Erlöser der Menschen, ist die fleischgewordene Barmherzigkeit Gottes auf Erden. Die Anrufung Gottes als des Allerbarmers, des Allbarmherzigen eröffnet den Koran. Und mit dieser Anrufung beginnen, mit Ausnahme der neunten, alle 114 Suren.

Für Juden, Christen und Moslems ist das Verständnis von Gott zentral mit der Idee der Barmherzigkeit verbunden. Die Eigenschaft Gottes ist – im Spiegel – eine Eigenschaft des Menschen.

Mit dem Begriffspaar „phóbos“ und „éleos“ konnte Aristoteles seine Poetik zusammenfassen. Die Tragödie sollte durch Erregung dieser Leidenschaften kathartisch von ihnen befreien. Lessing übersetzte die Wörter mit „Furcht und Mitleid“. Er sah die „Furcht“ als ein auf sich selbst bezogenes Mitleid; „Mitleid“ als ein auf das Gegenüber gerichtetes Empfinden. Das Theater war ihm eine Schule, in der das aufstrebende Bürgertum die Fähigkeit zum Mitleiden erwerben konnte. Der mitleidige Mensch war ihm der beste Mensch. Im Theater sollte eine Empfindungsgemeinschaft entstehen, die die adligen Despoten deklassierte. Man rebellierte nicht offen gegen sie, sondern zeigt ihnen die eigene moralische Überlegenheit

Schon bald kamen Zweifel auf an Lessings Übersetzung. Offensichtlich war die Situation bei Aristoteles radikaler, als Lessing sie hatte sehen wollen. „Phóbos“ war Schrecken, Terror, Horror. Und „éleos“ haltloser Jammer. Die Götter setzten die Menschen aus, überließen sie einer grundlegenden Ohnmacht. Die Tragik menschlicher Existenz war unlösbar. Das Theater gab in der Steigerung des Ausweglosen auf der Bühne das Angebot einer therapeutischen Linderung.
Und Aristoteles hielt Mitleid nur in einem engeren Kreis, Familie, Freunde, nahe Menschen, für empfindbar. Das Leid müsse für den Einzelnen vorstellbar sein.

Monate später sehe ich Photos von ihr. Ein Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki. Sie steht da, um die Schultern geschwungen ein Palästinensertuch, schwarz-weiß, vorne bei einem Podium. Sie hat ihren Film präsentiert. Sie wirkt souverän. Damals in der Küche hatte sie auf meine Frage, ob sie einmal in Israel gewesen sei, empört den Kopf geschüttelt.
Ich drehe an meinem Ring. KYRIE JESOU CHRISTE ELEISON.

Im Fernsehen laufen Bilder aus der Ukraine. Über Charkiw steigen Pilze aus Rauch auf. Aus Hausskeletten quillt Zerbrochenes, Zersplittertes, Zermalmtes, das, was einmal ein Zuhause war. Später lese ich das Interview mit einem ukrainischen Militär, der sich erstaunt darüber zeigt, in welchem Ausmaß Russland seine Soldaten völlig hoffnungslos gegen die Feuer anlaufen lässt. In der russischen Armee kämpft nicht die Jeunesse dorée von Moskau oder Petersburg, sondern es sind die jungen Männer, oft Kinder noch, aus den unterdrückten Randrepubliken, die täglich zu hunderten, zu tausenden geopfert werden.

Was unterscheidet einen kriegerischen Angriff von einem terroristischen?
Wer buchstabiert die Leiter des Leids?

KYRIE ELEISON. Ich drehe an meiner Hilflosigkeit.

*

In religiösen Texten erscheint Barmherzigkeit in der Nähe von Gnade. Für mich ist Barmherzigkeit etwas anderes als Gnade.
In meiner Kindheit gab es bei einer Tante auf dem Land einen alten Hasen. Er war dick. Er hockte da und mümmelte. Und lebte in einem engen Käfig neben anderen Hasen in engen Käfigen. Die Tante sagte, dieser Hase bekäme das Gnadenbrot. Ich nickte, als ob ich verstünde. Erst später begriff ich, dass dieser alte, dicke Hase nicht geschlachtet werden würde, sondern zu essen bekam, nur damit er lebte.
Auch Menschen können begnadigt werden. Gnade kann vor Recht ergehen. Anders als die Barmherzigkeit grenzt die Gnade an juristische Begriffe und impliziert ein Machtgefälle.

Gnade, Mitleid, Barmherzigkeit. Verzeihen. Es gibt so viele, auch sich widersprechende Lesarten für diesen Komplex des Zugewandtseins.

Mich interessiert eine Barmherzigkeit, die auf Augenhöhe stattfindet. Und hier läge dann der Unterschied zur Gnade. Weil der Barmherzige, den ich meine, keine Wahl hat. Er fällt in das Du. Ihn durchschneidet der Jammer so, dass er reagieren muss. Diese Barmherzigkeit trägt in sich ein Moment von Anarchie.
Nein, Barmherzigkeit ist nicht vernünftig, deswegen mochte Kant sie nicht. Sie ist hochemotional, deshalb verachtete Nietzsche sie. Sie war ihm zu „weiblich“. Diese Barmherzigkeit springt. Verzeihend springt sie über Recht und Ordnung, sie springt über die Plausibilität. Sie lässt sich nicht berechnen, sie ist die reine Großzügigkeit. In ihr steckt das unwahrscheinliche Trotzdem, das zu unserer Menschlichkeit gehört. Schopenhauer hat einmal formuliert, dass eine Wohltat, die „ausschließlich die Not des Andern zum Motiv hat (…) eigentlich eine mysteriöse Handlung, eine praktische Mystik“ ist, „sofern sie zuletzt aus der selben Erkenntnis, die das Wesen aller eigentlichen Mystik ausmacht, entspringt und auf keine andere Weise mit Wahrheit erklärbar ist“.

Der barmherzige Samariter war unversehrt und er hatte Geld. Er war fürsorglich. Er hat die Wunden des halb Totgeschlagenen mit Öl und Wein behandelt. Und ihn dann in die Obhut des Wirts gegeben, den er bezahlte und dem er versprach, bei seiner Rückkehr für alle weiter anfallenden Kosten aufzukommen.
War er gnädig, war er barmherzig? Neben der großen, der großzügigen Geste, die eben nicht auf Augenhöhe stattfindet, denke ich über Kleineres nach. Da gibt es doch etwas, das mit einer verstehenden Nähe zu tun hat. Eine Spielart von Liebe vielleicht. Oder nur ein Freundlichsein.

Mein Mann schaut skeptisch auf vom Küchentisch. Jetzt mischst du aber vieles durcheinander.

Ich versuche etwas, sage ich. Ein Essay darf eine Suchbewegung sein. War es nicht das weiche Wasser in Bewegung, das den harten Stein besiegt?

Du sprichst vom Schreiben, sagt er.
Auch, sage ich.

Ich bin Jahrgang 1957 und wurde groß in einer Nachkriegsgesellschaft, in der unter Schülern und Studenten das zentrale Wort „Diskussion“ hieß. Es sollte, im Sinne der Aufklärung, über alles gesprochen werden. Wir wehrten uns gegen die „Schwarze Pädagogik“, die Erziehung mit Bestrafung, Demütigung, Brechung des Ich verband. (Den Begriff hatte Katharina Rutschky 1977 gefunden.) Das ist auf paradoxe Weise vorbei. Vielleicht wurde Kindern nie so wenig elterliche Gewalt zugemutet wie heute, bei gleichzeitiger Zunahme von autoritären Strukturen in der Kommunikation. Es gibt sie wieder, die Gespenster der Schwarzen Pädagogik, die verbotenen Wörter, die verbotenen Fragen.
Eine ängstliche Hab-Acht-Stellung vor einer möglichen Ächtung prägt das soziale Miteinander. Und schnell dreht sich die fatale Schleife von Verletztsein, Abwehr, Vergeltung, Provokation, Rache.

Mütterlicherseits bin ich Tochter von Sudetendeutschen, die es sich übrigens verbeten hätten, als „Geflüchtete“ bezeichnet zu werden. So einfach war das nicht. Sie waren Flüchtlinge. Die Ehre dieses Leid-Schicksals zumindest wollten sie sich nicht nehmen lassen. Vermutlich hätte ich gerne darüber gesprochen, was es heißt, ein Kind von Flüchtlingen zu sein. Aber ich kam nicht auf die Idee. In den eher linksdenkenden Kreisen (damals hatte das Wort „links“ noch einen vergleichsweise klaren Sinn), in denen ich mich bewegte, waren sudetendeutsche Flüchtlinge kein Thema. Sie waren peinlich.

Ich war etwa 15, als ich von der Dominikanischen Klosterschule auf ein staatliches Gymnasium wechselte. (Ich hatte meine Eltern vor das Ultimatum gestellt: Schulwechsel oder keine Schule mehr.) In meiner neuen Klasse saß Tomáš. Er war nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mit seiner Familie nach Deutschland geflohen. Zu Hause erzählte ich von dem Jungen, mit dem ich mich zunehmend befreundete. „Der Tscheche kommt mir nicht ins Haus“, sagte meine sonst gastfreundliche Mutter. Ich schwieg. Und lud Tomáš ein. Und dann stand er strahlend in der Tür und sprach Deutsch mit seinem tschechischen Akzent. Meine Mutter kannte diesen Ton vom Pausenhof; die deutschen, die tschechischen die jüdischen Kinder waren zusammen in die Schule gegangen. Sie servierte selbstgemachte Himbeerlimonade und Griebenschmalzbrote. Tomáš kam wieder. Und bald waren die beiden in der Küche und panierten Pilze, kochten Marillen-Knödel oder Mohnbuchteln und andere Speisen ihrer böhmischen Heimat. Ich hatte das wissende Herz meiner Mutter richtig eingeschätzt. Und Tomáš‘ Charme auch.

Die polnische Lyrikerin, Nobelpreisträgerin, Wisława Szymborska hat einmal gesagt, der für sie wichtigste Satz sei: „Ich weiß nicht.“
Schriftsteller sind keine Politiker und keine Handlungsreisenden. Sie sind in einer seltsam privilegierten Position. Sie müssen keine Lösungen bieten und nichts verkaufen. Sie sind vogelfrei. Ihre selbstgestellte Aufgabe kann sein, das Nichtwissen auszuhalten. Um so einen Raum zu öffnen, in dem noch nicht alles entschieden ist. Das Rechthaben nicht und das Nicht-Rechthaben auch nicht. Nicht das Opfersein und nicht das Tätersein.
Schriftsteller können beschreiben. Ihre Moral ist die Genauigkeit im Einzelnen. Und die ist oft widersprüchlich. Natürlich haben sie eine Haltung, aber im besten Fall haben sie keine Meinung. Schriftsteller lassen das Nachdenken zu. Das Zweifeln. Das Unsichersein. Das Bedürftigsein. Den gottverlassenen Jammer. Und seine Würde auch. Das Um-Hilfe-Suchen. Sie verbürgen das, für das niemand sonst bürgt. Das Übersehene, das Verlorene.

Schriftsteller dürfen nachfragen. Auch naiv nachfragen. Auch riskant fragen. Ihr Sauerstoff ist die Empathie. Und mag sein, ihr Schreiben, vielleicht auf einem Schneidebrett, wäre ihr hilfloser Versuch einer Barmherzigkeit.

Noch unveröffentlicht.

Angelika Overath ist 1957 in Karlsruhe geboren. Sie hat über die Farbe Blau in der modernen Lyrik promoviert, drei Kinder geboren, Reportagen, Essays, Romane und Gedichte geschrieben. Nach Jahren in Tübingen und Thessaloniki lebt sie seit 18 Jahren in Sent, Unterengadin. Hier wird Vallader, ein Idiom des Rätoromanischen, gesprochen. Im Frühjahr 2022 kam „Schwarzhandel mit dem Himmel/ Marchà nair cul azur“, ihr dritter zweisprachiger Gedichtband, heraus.
Während mehrerer Monate am Bosporus entwickelte sie den Roman „Ein Winter in Istanbul“ (2018). Im April 2023 erschien „Unschärfen der Liebe“, der zweite Teil ihrer Istanbul-Trilogie, der für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde. Sie hegt eine Liebe zu den heilenden Kohlpflanzen; ihrem Knie widmete sie ihr literarisches Sachbuch „Krautwelten“ (Insel-Bücherei). Mit ihrem Mann führt sie in Sent eine Schreibschule Sent.
Im Frühjahr 2026 wird im Luchterhand Literaturverlag der letzte Teil der Istanbul-Trilogie erscheinen: „Calanda oder Alvas Antwort“.
Angelika Overath (Wikipedia)
Angelika Overath bei Literaturport

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Angelika Overath, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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