
Das Vermächtnis
- Juni 03, 2025
- by
- Christa Prameshuber
Im Jahr 1995 schrieb meine damals 80-jährige Großtante Mali in einem Brief:
„Heute, da ich bereits so alt bin und möglicherweise objektiver zu sein vermag, würde es mir Freude bereiten, mit der jungen Generation noch einmal über unsere Vergangenheit zu sprechen. Sie wird weitgehend verdrängt oder verfälscht und darf daher niemals in Vergessenheit geraten.“
Kurz vor ihrem Tod legte mir Tante Mali ein abgegriffenes Taschenbuch in die Hand: „Verrat auf Deutsch. Wie das Dritte Reich Italien ruinierte“ von Erich Kuby, erschienen 1982.
„Bitte lies das aufmerksam, es ist mir sehr wichtig“, sagte sie eindringlich.
Einige Tage später schlug ich das Buch auf und entdeckte auf der ersten Seite ihre zittrige Handschrift. Sie hatte Seitenzahlen notiert und mit Rufzeichen versehen – offenbar Stellen, die ihr besonders am Herzen lagen. Zahlreiche Passagen waren energisch unterstrichen, teils mit solcher Vehemenz, dass kleine Löcher im Papier entstanden waren.
Bevor ich ihr noch Fragen dazu stellen konnte, erlitt sie einen Schlaganfall und konnte nicht mehr sprechen.
Die markierten Stellen berichteten von Vergewaltigungen und Gräueltaten durch die faschistischen Truppen Mussolinis. Tante Mali hatte von 1937 bis 1939 als Kindermädchen in Rom und Livorno gelebt. Was sie damals gesehen, gehört und selbst erfahren hatte, ließ sich nur noch zwischen den Zeilen erahnen.
Es war ein Vermächtnis stummer Spuren: ein Zittern, ein Unterstreichen, Ausrufezeichen einer Erinnerung, die nie zur Sprache gekommen war. Ihre Botschaft schrie im Stillen. Was muss erinnert, was weitergegeben werden? Und warum gelingt es oft erst so spät?
Aus:
Christa Prameshuber: Die Liebesdeserteurin (2023), Trauner Verlag
Christa Prameshuber, 1961 in Linz geboren, lebt in der Schweiz.
In ihrer Frauentrilogie Die Meisterin (2018), Das mit der Liebe ist alles ein Schwindel (2020) und Die Liebesdeserteurin (2023, Trauner Verlag) setzt sie ihren drei Großtanten ein literarisches Denkmal.
2024 erschien ihre Kurzgeschichte Die Krücken meines Großvaters in der Anthologie Fragen hätte ich noch – Geschichten von unseren Großeltern (Rotpunktverlag).
Stille Rebellinnen – Persönliche Geschichten aus dem Turmzimmer (2025) erzählt von einer einwöchigen Eremitage im Linzer Mariendom.
Derzeit ist sie Mitherausgeberin eines Kurzgeschichtenbands zum Thema Schuhe (erscheint 2026, Arisverlag) und Mitglied des Österreichischen Schriftstellerverbandes.
Christa Prameshuber
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Christa Prameshuber, die Bildrechte bei Doris Lipp.