
Die letzte Insel
- Oktober 14, 2025
- by
- Gabrielle Alioth
Noch ist alles möglich, antworte ich Daniel, als er am Telefon fragt, ob ich mit dem Schreiben vorankomme. Aber natürlich stimmt das nicht. Es ist nur möglich, was ich mir vorstellen kann.
Du könntest eine Liste von Inseln machen, schlägt Daniel vor.
Island, Irland, Inis Meáin …
Auch von erfundenen.
Avalon, Brasil, Thule …
Oder gemalten.
Die Toteninsel?
Die Insel der Kalypso, sagt er, und ich weiß, dass er lächelt.
Wie geht es deiner Schwiegertochter, frage ich.
Inseln, beginnt er, entstehen auf drei Arten –
Erfundene Insel verschwinden, wenn sie vergessen werden, unterbreche ich ihn.
Es geht ihr gut, sagt Daniel, als habe er meine Frage erst jetzt gehört. Auf dem Ultraschall sieht man nun, dass es ein Junge ist.
Wir reden selten über seine Familie, nie über seine Frau, und wenn wir zusammen sind, tun wir, als existiere sie nicht. Aber ich mache mir keine Illusionen: Auch Odysseus kehrte zu Penelope zurück.
Nach dem Telefonat mit Daniel schaue ich mir die beiden Gemälde Arnold Böcklins im Internet an. Fast nackt sitzt Kalypso auf dem roten Tuch vor der schwarzen Höhle, die Lippen zusammengepresst, den Kopf mit einer schmerzhaften Drehung des Halses ihrem Geliebten, Odysseus, zugewandt. Kein Baum wächst da, kein Strauch. Kein Blatt von dem Weinstock, der sich nach Homer voll purpurner Trauben um den Eingang der Grotte rankte, ist zu sehen, nichts von den Wiesen voll Eppich und Klee, die selbst Hermes, den Götterboten, erstaunten. Wie ein Feuer hat die Leidenschaft die Insel verbrannt. Das Bild der Toteninsel hat mich stets an Märchenbücher erinnert. So wie Odysseus steht die weiße Gestalt auf der Barke, die Arme um den Körper geschlungen, ungerührt, von dem was sie hinter sich lässt. Ich schiebe die beiden Gemälde auf dem Bildschirm übereinander, die Insel der Liebe und des Todes verschmelzen zu einer.
Aus:
Gabrielle Alioth: Die letzte Insel, Roman, Lenos Verlag, Basel, August 2025
Gabrielle Alioth wurde 1955 in Basel geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war als Konjunkturforscherin tätig. Seit 1984 lebt sie als Schriftstellerin in Irland. Neben Romanen publiziert sie Reise- und Sachbücher sowie Lyrik auf Englisch, arbeitet journalistisch und gibt Schreibkurse.
Zuletzt erschienen: „Die letzte Insel“, Lenos Verlag, 2025 und „Funde Feen Fahndungen“, Caracol Verlag, 2025
Gabrielle Alioth
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Gabrielle Alioth, die Bildrechte bei Doris Lipp.