
Ein Freundschaftsdienst
- Juli 22, 2025
- by
- Moritz Hildt
Im weißgestrichenen Wohnungsflur, der ansonsten leer war, stand ein neuer Terrakottatopf. Aus dem buschigen Grün quollen die Blüten purpurner Petunien.
Jan bemerkte meinen Blick. „Ein bisschen Farbe für die werdende Mutter.“ Er fuhr sich unentschlossen über die Bartstoppeln am Kinn. In der langen Zeit, die wir befreundet waren, hatte ich ihn noch nie unrasiert gesehen.
Es war erst April. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie mild der Abend war. Und an das leise, unbestimmte Hochgefühl, das die halbstündige Fahrt mit dem Rad durch die laue, auf einmal blütenschwere Luft in mir zurückgelassen hatte, wie die Ahnung, dass das Schlimmste nun womöglich überstanden sein könnte – was immer das auch heißen mochte.
„Du bist ein echter Freund“, sagte Jan und drückte mir die Schlüssel seines Autos in die Hand. „Ich komme gerade aus den Videokonferenzen nicht raus. Lea braucht mal ne Abwechslung.“
Das Autokino am alten Schlachthof hatte vor kurzem aufgemacht. Es war, sagte er, Leas Idee gewesen, mit mir hinzufahren.
Er beugte sich vor. „Unter uns, sie kann zur Zeit eine ziemliche Nervensäge sein.“
*
„Popcorn!“, rief Lea und klatschte in die Hände wie ein Kind. Sie hatte die Rückenlehne ihres Sitzes weit nach hinten gestellt. Ihr Bauch war prall und fest unter dem Kleid, das ihr fast bis zu den Knien ging.
Ich versuchte, nicht hinzusehen, und reichte ihr die knisternde Packung, die ich im Supermarkt besorgt hatte. „Das volle Autokino-Programm eben.“
Ich wollte gern, dass sie sich wohlfühlte. Es war sicher keine leichte Zeit, um schwanger zu sein. Es hing gerade viel davon ab, wie gut man damit klarkam, wenn die Dinge plötzlich anders liefen.
„Hast du denn die richtige Frequenz?“, fragte sie über das Rascheln der Popcorn-Packung hinweg.
Erst da merkte ich, dass der Film vorne auf der Leinwand bereits begonnen hatte. Aber aus unserem Autoradio drang noch immer dieselbe seichte Musik. Vorhin hatte ich die Frequenz eingestellt, die auf dem Online-Ticket angegeben war. Jetzt zog ich das Handy heraus und verglich die Ziffern, eine nach der anderen. Ein Denkfehler, dachte ich, irgendwo machst du einen Denkfehler. Unsinnigerweise begann ich, auf dem Touchscreen herumzudrücken.
„Bei den anderen scheint’s kein Problem zu geben.“ Lea nickte zum Auto vor uns hin. Es hatte österreichische Kennzeichen.
„Ich frag die mal“, sagte ich, konnte aber in dem mir fremden Auto den Türgriff nicht gleich finden.
„Ich habe eine bessere Idee“, sagte sie und zog mich unvermittelt zu sich herab.
Ihre Zunge war warm und schmeckte süß vom Popcorn und nach Himbeeren. Mehr durch Zufall kam meine Hand auf Leas Bauch zum Liegen. Sie lachte vergnügt auf und küsste mich weiter.
„Das volle Autokino-Programm“, sagte sie danach und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen tun sollte, und legte sie aufs Lenkrad.
„Erzähl mir doch einfach, worum es geht“, sagte sie. Der Film lief noch immer ohne Ton, weit weg, auf der großen Leinwand. Ich hatte ihn noch nie gesehen.
*
Wir blieben, bis die Vorführung vorüber war. Dann brachte ich Lea zurück. Einige Wochen später besuchte ich die beiden wieder. Alles war wie immer.
Ich will mich gern an den Kuss erinnern. Aber alles, was ich vor meinem inneren Auge sehe, wenn ich an jenen Abend zurückdenke, sind die purpurnen Blüten der übermächtigen Petunie.
Es war eine seltsame Zeit. Ich fühlte mich damals zwischen den Dingen und hatte noch die Hoffnung, dass sich etwas – etwas, das nichts mit den Umständen zu tun hatte, sondern nur mit mir selbst – bald ändern würde.
Eine frühere Fassung dieser Erzählung ist erschienen in: Das Fest, hrsg. v. S. Denk, H. Dragaschnig u. W. Mörth, Edition Literatur im Schwärzler: Bregenz 2022, S. 48–50.
Moritz Hildt, aufgewachsen zwischen Weinbergen und Pendlerzügen in Süddeutschland, lebt als freier Autor in Passau. Seine Geschichten kreisen um Menschen, die in ihrem Leben ins Straucheln geraten. 2019 erschien sein Romandebüt Nach der Parade im Berliner Verlag duotincta. Es folgten der Roman Alles (2020) und Wildnis. Drei Novellen (2022). Zur Zeit steckt Moritz Hildt Hals über Kopf in den letzten Feinschliffarbeiten an seinem neuen Roman, der 2025 erscheinen soll. Weitere Infos unter
Moritz Hildt
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