Hat jemand meinen Namen erwähnt?

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Men djèt-la, papa, men djèt-la, papa …, singt die Menge auf Kreolisch, mitgerissen von den Karnevalslautsprechern, die man für die Einweihung des François-Duvalier-Flughafens aus dem Depot geholt hat. Das Flugzeug wird eine Stunde später wieder starten, an Bord zwölf Gefangene, die soeben von dem Ort zurückkehren, von dem es keine Rückkehr gibt. Das war der Deal, zu dem man den Diktator gezwungen hatte: einen Jet gegen eine Gefangenenliste. Ein Glück, dass die Bestie nach fünf Jahren verbrannter Erde und Dezimierungen gesättigt war. Nichts wuchs mehr, nichts stand mehr, alles war vollzogen. Es begann ein langer Reptilienverdauungsschlaf. Die Bestie mit dem immer noch fruchtbaren Schoß schlief indessen nur mit einem Auge. Was für ein Glück diese zwölf hatten …

Aus dem Gefängnis zu kommen, ist wie der Aufprall bei einem Crash. Man kommt mit gewaltigem Krachen von der anderen Seite des Lebens zurück, von der anderen Seite des Spiegels. Jede Narbe wird später erzählen, wie ihre Lippen genäht wurden, viel später, denn es braucht Zeit, bis die Kruste abblättert. Im Kopf verlässt man nämlich das Gefängnis nie, anfangs kehrt man jeden Abend dorthin zurück, dann an den Wochenenden, und von Jahr zu Jahr vergrößern sich die Abstände bis auf zehn, zwanzig, dreißig Jahre … In den ersten Tagen muss man jedoch mit all jenen klarkommen, die wissen wollen. Von dem sprechen, was sie hören wollen. Es wieder und wieder sagen. Gute Miene machen. Sich bedanken. Und sprechen, wenn man sich nur nach Stille und Einsamkeit sehnt. Der Terminus des politically correct war noch nicht erfunden, aber genau darum ging es schon: gut die Rolle der Figur spielen, von der die anständigen Leute Empörungsstoff erwarten, und ihnen sagen, nein, es gibt entgegen der landläufigen Vorstellung keine Gitter in den Zellen, es ist daher treffender zu sagen, dass man »im Loch« als dass man »hinter Gittern« sitzt …

Die Rückkehr ins Leben sorgt indessen nicht nur dafür, dass der ehemalige Gefangene wegen zu großer Nähe zum Tod nur noch das Wesentliche duldet, sie bietet ihm auch Geschäfte mit Trödel, der nicht immer traurig ist und ihm manchmal sogar gefährliche Macht verleiht, so wie jene fallbeilartigen Antworten mit ja oder nein.
»Hat jemand meinen Namen erwähnt?« Sie sprechen stets leiser, wenn sie diese Frage stellen. Selbst, wenn niemand in Hörweite ist. Die Frage soll in ihrem Inneren nicht zu laut hallen. Alle Davongekommenen werden es Ihnen bestätigen: Wenn von den Verhören im Gefängnis die Rede ist, kommt der Moment, in dem Ihr Gegenüber – flüsternd und mit verschämt abgewandtem Blick, weil er sich nicht zurückhalten konnte – fragt: »Hat jemand meinen Namen erwähnt?« Eine unpersönliche, fast neutrale Formulierung, die nicht einmal »Haben sie meinen Namen erwähnt?« wagt. Als wäre dieses »sie« eine Art Risiko, das man nicht eingehen darf, ein in der Diktaturgrammatik kompromittiertes Fürwort, eine Schuld, mit der das Indefinitpronomen nicht behaftet ist. Und das unmerkliche Zittern der Stimme, immer, denn wenn sie wirklich sicher wären, wie die Antwort lautet, hätten sie diese Frage, die so wehtun kann, nicht gestellt.
Da gibt es im Land die, für die das eine Frage von Leben oder Tod ist. Sie haben einfach nur Angst, dass sie irgendwann selbst an die Reihe kommen, trotz ihrer lobenswerten Anstrengungen, weit vor der Politik herzulaufen. Aber sie wissen, dass die Politik schnell genug ist, um jeden irgendwann einmal einzuholen. Sie haben einfach nur Angst und wissen nicht, dass es ehrenwert ist, sich vor Dingen zu fürchten, die es verdienen, gefürchtet zu werden. Bei diesen genügt ein »Nein, niemand hat deinen Namen erwähnt«, um ihre Angst vor dem Morgen zu beruhigen. Man hatte im Moment anderes zu tun.

Und dann gibt es im Ausland die, für die das eine Frage des Images, der strategischen Bedeutung, der unmittelbaren Zukunft ist, denn in sicherer Entfernung von der Bestie, außerhalb der Reichweite ihrer Fangarme, anderswo ist das Überleben bereits gewährleistet. Mit einer bejahenden Antwort macht man einen Menschen glücklich, welcher dann überall verkündet, dass er noch zählt, der Beweis wurde soeben erbracht. So wie jene zwei, die sich dermaßen verausgabten und es dermaßen nötig brauchten: Ich machte ihnen ein Ja zum Geschenk, von dem sie zehn Jahre, bis zum Zusammenbruch der Diktatur, zehren sollten. Aber ein Verneinen ist immer eine kräftige kalte Dusche.

Sie erwarteten mich zu dritt an einem runden, durch eine riesige Glasfront schön erleuchteten Tisch hoch über dem Strom in Montreal, einem Generalstabstisch für hochtrabende Reden von Verschwörern, die nie einen Zweifel daran hatten, dass sie mit der Geschichte verabredet waren, und sich mit Ausrufen und Speicheltropfen darauf vorbereiteten.
[Der Erste, den die anderen mit »Herr Präsident« anredeten:] »Man hat unsere Namen erwähnt, oder?«
[Der Zweite, scheinbar sicher, wie es sich für einen zukünftigen Kanzler geziemt:] »Zweifellos!«
[Der Dritte, Handlanger für alles, eifriger Eiferer:] »Wie könnte es auch anders sein!«
Nein, meine Herren. Nichts. Kein Wort von Ihnen, meine Herren. Man musste ihre Gesichter sehen. Bleich. Gezwungenes Lachen. In solchen Momenten spürt man, dass man nie wieder eingeladen wird.
Und dann, später, viel später, bei der Nachspeise eines Abendessens, dessen Gastgeberin alle Mühe hatte, heiter zu wirken – der Süßkartoffelkuchen, das painpatate, war so gut, dass man davon großzügig wurde –, wenn ich mich recht entsinne, ja. Ja, eine vergessene Anspielung, dass man nicht von Ihnen sprechen würde, nein, dass sich das im Moment nicht lohnen würde, nein, dass man aber später darauf zurückkommen würde, ja. Aber nach dieser unerwarteten Bemerkung war dann nicht mehr davon die Rede, nein.
Uff! Sie bekamen wieder Farbe, nahmen eine zweite Portion painpatate, bliesen sich wichtig auf und bemerkten nicht einmal den dankbaren Blick, den mir die Hausfrau zuwarf.

Aus:
Georges Anglade: Hat jemand meinen Namen erwähnt? (Vous a-t-on parlé de moi) in Das Lachen Haitis (Rire Haïtien). Aus dem Französischen von Peter Trier. Kehl (Litradukt) 2008/Trier (Litradukt) 2018.

Georges Anglade, geboren 1944, aufgewachsen in der haitianischen Provinz, war Wissenschaftler und Politiker, bevor er zum Schriftsteller wurde. Als Geograph verfasste er das Standardwerk L’espace haïtien. Als Politiker war er führendes Mitglied der Demokratiebewegung Haitis, politischer Gefangener unter Duvalier und kurzzeitig Minister unter Aristide. Als Schriftsteller machte er sich um die Wiederentdeckung und Wiederbelebung der lodyans verdient, eines typisch haitianischen Genres von kurzen, stark kondensierten, oft satirischen Erzählungen. Seine lodyans sind in dem Band Rire haïtien (Das Lachen Haitis) versammelt, den Dina Netz im SWR „eine Schatzkiste voller Perlen“ nannte, „manche davon strahlend hell, andere mit Einschlüssen oder von düsterem Glanz.“
Georges Anglade war bis 2002 Geographieprofessor an der Universität Montreal. Er starb zusammen mit seiner Frau Mireille Neptune-Anglade, einer bekannten Wirtschaftswissenschaftlerin, bei dem Erdbeben in Haiti am 12. Januar 2010.
Georges Anglade

Peter Trier, geboren 1970 in München, aufgewachsen in Bonn, studierte dort Germanistik und Romanistik und arbeitete als Sprachlehrer, bevor er zum Übersetzen wechselte.
Er gründete 2006 den Verlag Litradukt, der sich auf Übersetzungen von Literatur aus der frankophonen Karibik spezialisiert hat. Neben Georges Anglade und Gary Victor übersetzte er u. a. Werke von Yanick Lahens, Lyonel Trouillot, Anthony Phelps und Maryse Condé.
Litradukt

Milady Renoir, geboren 1975 in der Banlieu von Paris, übte eine Vielzahl von Berufen aus. Seit 2000 lebt sie in Brüssel als Dichterin, Leiterin von Schreibwerkstätten, Bloggerin, Journalistin und Performancekünstlerin.
Sie setzt sich insbesondere für die Rechte von Einwanderern ein.
Milady Renoir

Die Rechte an der deutschen Übersetzung liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Milady Renoir.

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