
Im Zelt
- Juli 29, 2025
- by
- Rüdiger Preuss
Im Vorzelt warten die Stände mit Popcorn und anderen Süßigkeiten auf die Besucher. Hier gibt es Getränke und Essen und Souvenirs.
„Le souvenir“, Erinnerung. Das bedeutet, dass etwas wieder in die Gedanken zurückkommt, es kann ein Mitbringsel sein, und von solchen gibt es viele am Souvenirstand des Circus.
Spiele, Bücher über Artisten, Programmhefte, Kaffeetassen, Bildbände mit großformatigen Aufnahmen. Man kann den Circus als Bausatz mit nach Hause nehmen, kann eine kleine Miniaturwelt schaffen und die Kinder werfen farbige Jonglierbälle in die Luft und versuchen sie zu fangen.
Man kann das alles mit nach Hause nehmen und sie sind Stützen für das Gedächtnis. Aber hin und wieder kommt die Erinnerung auf eine andere Art, Bilder steigen auf, und plötzlich ist das atemlose Staunen wieder da, das begeisterte Lachen, das wissende Lächeln und die andächtige Versunkenheit.
Drinnen, im geheizten Zelt, finden die Proben statt. Der Jongleur wirft seine Ringe und Bälle. Wie schafft er es nur, dass die Ringe einen Bogen in der Luft machen, über die Köpfe der Zuschauer hinwegfliegen und zu ihm zurückkehren?
Der Weißclown betritt würdevoll die Manege. Er breitet einladend die Arme aus. Dann spielt er eine zu Herzen gehende Melodie auf seinem Glockenspiel. Der Weißclown füllt und verschönert oft mit einer kurzen musikalischen Darbietung die Übergänge zwischen einzelnen Nummern.
Pierrot kommt und trägt den Blecheimer mit Seifenlauge hinein. Man erzählt sich, dass sich hinter der Herstellung der Seifenlauge ein Geheimnis verbirgt, das Pierrot jedoch keinem verrät. Es ist eines von vielen Geheimnissen beim Circus, denn wie probt man Verzauberung?
Die Requisiteure stellen das Schleuderbrett auf. Sie sind auch für die Sicherheit zuständig. Sie überprüfen immer wieder Seile, Bänder, Knoten und Karabiner. Es darf nichts schief gehen. Zwei Mal an jedem Spieltag tragen sie diese Verantwortung.
Und die Artisten überschlagen sich in der Luft, wechseln ihre Kleider im Wind. Zaubern und tanzen, sie sind ständige Verwandlung.
Die Clowns kommen. Der dumme August. Sie leben im Lachen mit riesigen Schuhen und weiten Hosen, mit zerzaustem Haar und wedelnden Armen, mit staunendem Mund und roter Nase.
Kilian und Hinrich stürmen herein. Sie sind Luftartisten und Liebende. Laufen Hand in Hand in die Manege. Die engen Kostüme zeigen deutlich die durchtrainierten Körper. Glänzende Muskeln im Licht der Spots. Konzentration in jeder Faser, den Kopf nach oben gerichtet, hinauf zur Kuppel. Ein Seil fällt vom Himmel, wird aufgefangen, verknüpft mit Kilians Körper. Kilian wird emporgezogen in luftige Höhe. In letzter Sekunde greift Hinrich nach den Händen des Partners, die ihn packen und halten und zusammen sind sie nun dort oben, von dramatischer Musik eingehüllt und Hinrich fliegt frei, wird hinaufgeschleudert von Kilian und schwebt frei, fällt dann und fällt und wird im letzten Moment vor einem verhängnisvollen Sturz aufgefangen, dieses Mal an den Fußknöcheln und das Licht fällt auf die zwei Körper, die sich jetzt umschlingen, bevor Hinrich sich wieder hinaufschwingt, sich in der Luft dreht, eine leuchtende Spindel, und wieder hinabschießt in die sicheren Arme von Kilian und in den tosenden Applaus hinein.
Daniel sah sie oft nach der Vorstellung, sah sie an Sommertagen im Café beieinander sitzen, traf sie in der Stadt, und immer schien es, dass sie sich aneinander festhielten, dass sie unentwegt in der Luft schwebten, aber einander auffingen.
So fing das Circusleben auch einige andere auf, dachte Daniel.
Aus:
Rüdiger Preuss: Der reisende Traum, BoD, 2025
Rüdiger Preuss, geboren 1956, lebt als Schriftsteller in Dortmund. Viele private und berufliche Reisen, u.a. zehn Jahre mit dem Circus Roncalli.
Letzte Veröffentlichungen:
„Endspiele“, Roman, Edition offenes Feld, 2022
„An zwei Meeren“, Erzählung, BoD, 2024
„Mosaik“, Skizzen & Geschichten, BoD, 2024
„Der reisende Traum“, Erzählung, BoD, 2025
Rüdiger Preuss
Rüdiger Preuss bei Literaturport
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Rüdiger Preuss, die Bildrechte bei Elke Wagner.