Keiner da

Keiner da

Der Keil ist ein gutes Zeichen. Wenn der Keil unter der Eingangstür im Erdgeschoß steckt, ist die Wohnung oben wahrscheinlich leer. Es kann allerdings auch bedeuten, dass der Vater beim Heimkommen zu betrunken war, um daran zu denken. Also kein sicheres Zeichen. Leo blickt auf seine Füße, die in zerlatschten Birkenstockschlapfen stecken, getragen in vierter oder fünfter Generation, es ist sein Ankerblick. Er schiebt die Tür leise auf, nimmt den befreiten Holzkeil und legt ihn sorgsam an die Wand. Alles, was er tut, macht er mit einer für einen Siebenjährigen seltenen Behutsamkeit. Im bedachten Tun kann weniger passieren und das vermeidet wiederum Konflikte. Je mehr er, gleich einem Möbelstück, als stummer Teil des Alltags in der Unauffälligkeit verschwindet, desto eher entkommt er den Launen des Vaters.

*

Aufstieg zum ersten Stock. Die Erinnerung an jenen Moment, in dem die Brutalität seines Vaters in sein Leben drang, kommt immer hier hoch. Es war nach einem ewig anmutenden Nachmittag mit anderen Kindern des Gemeindebaus. Zum Glück gab es die Größeren, sonst wäre Leo mit seinen fünf Jahren wohl sehr allein in dem eckigen Graugrün des Innenhofs gewesen. Nach vielen Spielstunden ging er, von den Älteren zur vereinbarten Zeit geschickt, heimwärts. Er stieg auch damals die Treppen hoch, Stockwerk für Stockwerk. Der Lift war verboten, außerdem kam er nicht bis zum Viererknopf. Im Hochziehen der kleinen dünnen Knie sah er wohl, dass die Hose dreckig und aufgerissen war. Das bekümmerte ihn, doch was blieb ihm schon.

Der Schlag ins Gesicht kam aus dem Nichts. Leo hatte seinen Vater noch nicht einmal wahrgenommen, da landete dessen Pranke schon auf seiner Wange, seinem Ohr, auf der ganzen rechten Hälfte des kleinen Kinderschädels. Die Größe der Hand stimmte mit der Größe der Wange nicht zusammen, da wurde schon der ganze Schädel gebeutelt. Der Vater hatte in seinem Rausch an der Wand im Gang gelehnt. Leo wollte sich leise hineinschleichen, indem er zuerst den zum Türaufhalten eingeklemmten Schuh durch den Spalt nach innen schob und hinterher sich selbst. Das Gegenlicht, das ihm durchs Küchenfenster direkt in die Augen stach, nahm ihm die Sicht und so kam der Schlag vor dem Blick. Der folgte allerdings gleich darauf und traf tiefer als der Schlag. Das Brennen auf Wange und Ohr und das Kopfgrummeln vergingen bald, der bedrohliche Blick blieb eingebrannt in ihm.

Es war ein blöder Zufall, der Vater war gerade aus dem Klo gekommen, das zweite Bier forderte die Erleichterung. Das Klo hatte kein Waschbecken, Saubermänner dieser Achtziger-Wohnungen mussten nach dem Pinkeln ins Badezimmer zum Händewaschen, Dreckskerle wischten einmal über den Hosenboden und fertig. Genau das tat Leos Vater und in diesem Moment stahl sich der Kleine zur Wohnungstür herein, die schmutzigen und zerschlissenen Knie direkt in die Strahlen der Abendsonne gesteckt. Die stinkende Vaterpranke überlegte da nicht lang.

*

Aufstieg zum zweiten Stock, Erinnerung an den Riesenkrach. Leo war ein wenig älter. Seine Mutter war noch da, mit der Betonung auf noch. Manchmal verbrachten seine Eltern den Nachmittag gemeinsam zu Hause, wenn seine Mutter Frühschicht gehabt hatte, danach keine Wege erledigen musste und die Großmutter nichts brauchte. Es war selten, dass die Mutter frei hatte, und in diesen Stunden wollte sie gern zu Hause sein. Das Gefühl des ‚gern‘ wandelte sich mit der fortschreitenden Dauer der Arbeitslosigkeit des Vaters. Es drehte sich in Pflichtbewusstsein gegenüber Leo und wohl auch Alternativlosigkeit.

Beim Blick auf seine die Stiegen hinaufsteigenden Knie, diesmal sauber, hörte er im Aufgang zum zweiten Stock bereits die Mutter schimpfen. Die Tür stand ihren üblichen Spaltbreit offen und die Mutter war wirklich laut. Sie musste sehr zornig sein. Mit dem Hinaufklettern, das Stufe für Stufe zögerlicher wurde, begann er Wortfetzen zu verstehen. Säufer! Faules Arschloch! Penner! Nichtsnutz! Leo kannte die meisten Wörter nicht, doch sie klangen nicht fein. Oben angekommen, verharrte der Junge vor der Tür, wie ein Detektiv mit dem Rücken an die Wand gepresst. Etwas Schweres wurde gegen einen Kasten geschleudert, Leo hörte den Aufprall, das Klirren und Landen der Teile am Linoleumboden. Er verließ verstört seinen Posten und kam genau in dem Moment in die Küche, als der Vater ausholte und seiner Mutter die zur Faust geballte Pranke ins Gesicht schmetterte. Die Mutter drehte sich wie eine Ballerina, nur nicht auf Zehenspitzen und im Tutu, sondern auf ihren wackeligen Beinen in Jogginghosen durch die Wucht angekurbelt halb herum und landete im Scherbenhaufen. Sie schnitt sich an Handflächen und Unterarmen, das Blut schmierte zwischen Blumenwasser und Chrysanthemenstängeln. Leo stürmte auf seine Mutter zu, sie blickte durch einen wirren Vorhang brauner Haare verzweifelt zu ihm. Aus ihrem Gesicht tropfte Blut, woher genau, konnte der Junge durch den Haarschleier nicht sehen. Er hockte sich vorsichtig zu ihr, unter seinen Gummisohlen knirschten die Scherben, aber das war ihm egal. Egal auch, dass er die strenge Regel des Schuhausziehens gebrochen hatte, egal, dass er sich schneiden könnte. Der Vater schnaubte verächtlich, murmelte „super Sanitäter“ und „wirst schon zurechtkommen“, lallte ein „na dann schönen Abend“ und ging.

Er hinterließ einen Trümmerhaufen, der nicht mehr zu kitten war. Weder die Vase noch die Mutter. Zwei Tage später war sie weg. Leos Fünfjährigendenken verwob sein mangelhaftes Können als Sanitäter mit der Traurigkeit und dem anschließenden Verschwinden der Mutter. Er machte sich Vorwürfe und stellte doch keine Fragen. Beim Vater Antworten zu bekommen war aussichtslos, das wusste der Kleine.

*

Aufstieg zum dritten Stock. Der Pinkelstock, die peinlichste Erinnerung. Wieder ein paar Monate später. Leo scheute jede über die absolute Notwendigkeit hinausgehende Begegnung mit dem Vater. Er wollte so unsichtbar wie möglich sein. Abends im Bett stellte sich der Junge vor, was mit seinem Kinderkopf passieren würde, träfe ihn die Vaterfaust mit der Wucht, wie sie Mutters Auge und Schläfe getroffen hatte. Dem kleinen Leo fiel dazu das Bild eines zermatschten Eies ein, wo die Scherben der Eierschale in den Dotter stachen und alles ineinander verrann. Er wollte kein Matsch sein. Wenn er merkte, dass es brenzlig wurde, wenn der Vater getrunken hatte, grantig und unzufrieden, stinkend und unrasiert am Küchentisch saß und auf Jobanzeigen im regionalen Wochenblatt stierte, machte er an der Schwelle kehrt mit einer Ausrede wie „hab’ was vergessen“ oder „muss schnell zu Oma“ und war schon wieder weg. Es waren Zeiten, zu denen ein Kindergartenkind nicht mehr in den Straßen umherstreichen sollte, es waren einsame Stunden und kalte. Alles besser jedoch, als sie mit dem Vater in der Wohnung zu verbringen. Leo wusste nie, welche Zornesblitze er schleudern würde.

An jenem Tag war es Leo saukalt geworden beim Herumstreunen zwischen den Häuserblöcken und er wurde hungrig. Getrunken hatte er genug, die Tür zum Waschraum auf Stiege 3 war stets offen, der Wasserhahn zugänglich, aber zum Essen hatte er nichts dabei. Es trieb ihn heim und umso näher er seinem Haus kam, desto enger wurde es in der Blase. Leo musste dringend pinkeln, die Kälte machte es noch schlimmer, also halt schnell draußen. Als er den Reißverschluss hinunterziehen wollte, um sein Geschäft hinter dem kahlen Hagebuttenstrauch zu verrichten, hatte er so klamm gefrorene Finger, dass er ihn nicht aufbrachte. Weder den Knopf noch den Reißverschluss. Über die Hüften brachte er die Hose nicht mehr, sie war ihm schon viel zu klein. So rannte er zum Haus, rannte die erste Treppenflucht nach oben, hockte sich kurz am Podest hin und presste die Oberschenkel zusammen. Stand vorsichtig auf, rannte weiter hinauf, zweiter Stock, gleiches Manöver, er wurde immer zappeliger. Im dritten Stock war es passiert, Leo konnte nicht mehr. Alles war nass. Geknickt schlurfte er in den vierten Stock, die Hosenbeine klebten dunkel an ihm. Er wollte unbemerkt ins Bad, sich und die Hose waschen, verschwinden im Schutz seines Zimmers. Doch der Klemmschuh war nicht mehr da, Leo musste läuten.

„Na, hast dich lang rumgetrieben in der Kälte?“, waren die freundschaftlich anmutenden Worte, als der Vater die Tür öffnete. Das Freundliche erstarrte schlagartig wie Wasser zu Eis, als er Leo in seinem Elend erblickte. Es folgten kein Mitleid und keine Fürsorglichkeit, nur blanker Zorn. Zorn, der einmal mehr um sich schlug. Allerdings hatte er diverse Spielformen, dieser Zorn. Zuerst duschte er den kleinen Jungen viel zu heiß mit dem Argument, so etwas Ekelhaftes wie Urin müsse man g’scheit abwaschen. Die von der Hitze gerötete Haut an den Beinen, am Hintern und im Schritt peitschte der Zorn anschließend mit dem Gürtel durch, bis alles rot-weiß-rot gestreift war. Frisches Gewand gab es an diesem Tag keines mehr, Leo musste nackt und geprügelt bei seinem Vater sitzen und trockenes Brot hinunterwürgen. Er schaffte es fast nicht, allein die Angst vor weiteren Schlägen und die Aussicht auf sein Zimmer ließen ihn durchhalten und Bissen für Bissen schlucken. Leo konnte von Glück sprechen, dass er noch kein Schüler war, er hätte tags darauf nicht sitzen können.

*

Aufstieg zum vierten Stock. Die Himmelstreppe. Leo hat sie so benannt. Hier hofft er bei jeder Stufe inbrünstig, dass der Vater nicht da ist und so spät kommt, dass ihm keine Boshaftigkeiten mehr gegen ihn einfallen. Oder dass er da ist und im Suff schläft. Oder sogar, dass er gegangen ist, um nie mehr zu kommen. Leo weiß nicht, was das Beste wäre. Er weiß nur: Ohne Schläge lebt er besser.

An diesem Tag ist die Wohnung leer. Anders leer als sonst. Es fehlen Dinge vom Vater, die er bei normalen Ausgängen nicht mitnimmt. Zwei Jacken statt einer, oder Arbeitsstiefel und Turnschuhe. So leer also, dass Leo spürt, das Schicksal hat sich mit einer günstigen Wende in diesen Tag geschlichen. Der Junge hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll, doch er fühlt sich so leicht wie schon lang nicht mehr.

Noch unveröffentlicht.

Eva Adelbrecht, geb. 1979, ist freiberufliche Übersetzerin, Dolmetscherin und Lektorin. Gefeilt wurde an ihren Sprachkenntnissen an diversen Lebensplätzen: Ihre Muttersprache Deutsch hat einen kaum mehr zu erkennenden Kärntner Colorit. Die Fremdsprache Französisch wurde in Grenoble vor dem und in Brüssel während des Studiums verinnerlicht. Das Englische sehnt sich immer noch nach einem Auslandsaufenthalt. Als Liebhaberin vieler Sprachen und deren Besonderheiten möchte sie allen gerecht werden, und doch: Ihr Herz schlägt für Französisch, die Praxis bringt eher Englisch, die Kreativität funktioniert am besten auf Deutsch. Lassen es Kinder und Beruf zu, entstehen Texte. Meist spätabends, und doch kaum verträumt. Schicksale, die sie beschäftigen, werden in Kurzgeschichten gegossen.
Eva Adelbrecht

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Eva Adelbrecht, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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