
Löschblatt
- Juli 15, 2025
- by
- Bastian Schneider
Im Notizbuch stehen Gedanken neben hastig notierten Wörtern, mehr oder weniger gute Einfälle neben Adressen; Traumfetzen neben Telefonnummern und Terminen. Das Alltägliche und Flüchtige steht neben dem vermeintlich Tiefgründigen und vielleicht Beständigen. Ein Notizbuch kennt keine Hierarchie. Es wird zusammengehalten von den Leerstellen zwischen den Einträgen. Seine Poesie besteht darin, die Dinge nur anzureißen, nur zu skizzieren; nichts wird vollständig ausgeführt, alles bleibt angedeutet und offen, roh und porös. Es gibt keine Handlung im Notizbuch, es handelt von nichts, es behandelt alle Wörter gleich; man könnte auch sagen, vorm Notizbuch sind alle Wörter gleich, und das Genie der großen Werke wird darin wieder zum Menschen. Eine unleserliche Handschrift unterstützt diesen Effekt: Die Buchstaben werden immer kleiner und zeichenhafter, sie verwischen mit der Zeit und nähern sich der Zeile an. Was bleibt ist ein diffuses Bild, keine Schrift. Je näher meine Augen den Wörtern kommen, desto weniger kann ich sie entziffern, sie scheinen zu verschwimmen und zu verschwinden, und vielleicht geht es gerade darum: so lange hier zu sitzen, ins Notizbuch gebeugt, bis ich in meiner Schrift verschwinde, bis schließlich auch die Schrift verschwindet.
Aus:
Bastian Schneider: „Die Schrift, die Mitte, der Trost“, Sonderzahl Verlag, Wien 2018
Bastian Schneider studierte deutsche und französische Literatur in Marburg und Paris sowie Sprachkunst in Wien. Er lebt in Köln und Wien. 2023 erhielt er den Reinhard-Priessnitz-Preis.
Zuletzt erschienen: „Zollstock Alphabet“ (parasitenpresse, 2024), „Die Liebe der Korallen“ zus. mit Petra Piuk (Sonderzahl Verlag, 2024) sowie „Das Loch in der Innentasche meines Mantels“ (Sonderzahl Verlag, 2022).
Bastian Schneider
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