
Pendler
- Juni 17, 2025
- by
- Moritz Heger
Auf der Abfahrt hinunter in den Kessel staut es sich, wie jeden Morgen. Aber es ist kein echter Stau. Echte Staus erlebt man selten. Vollsperrungen. Nächtelanger Stillstand, wo nichts mehr geht. Eingeschneit sein, mit heißem Tee versorgt werden. Das hier ist der übliche stockende Verkehr, von dem die Welt voll ist. In Stuttgart bauen sie ja die Straßen nicht aus, wegen der schwierigen Hanglagen und wegen der Grünen.
In immer kürzeren Abständen blickt er zur Uhr. Wirklich pünktlich zu kommen, kann er sich schon abschminken. Die Frage ist nur – und das ist die entscheidende Frage –, kann er es bei fünf Minuten halten? C. t. Was hieß das gleich? Cum tempore. Wie altmodisch das klingt. Oder wie der Name eines angesagten Lokals. In der Arbeitswelt läufts anders als damals im Studium. Eine Viertelstunde ist ein Faktum, ein Faktor. Und alles darüber hinaus, heißt: fehlen. Wenn du dann kommst, bist du erstmal durchscheinend. Der Fehl-er. Er will ein Stein sein, natürlich will er ein Eckstein sein und ist es ja eigentlich auch. Das ist es ja.
Der Chef darf kommen, wann er will.
Und wenn er viel früher losführe? Wirklich viel früher? Fünf Minuten bringen es nicht, sind immer gleich aufgebraucht. Aber wenn er mitten in der Nacht aufbrechen würde, vor allen anderen? Er schläft eh nicht gut.
Es gibt kleine Optimierungspotenziale. Am Küchentresen bleibt täglich wertvolle Zeit liegen. Später wertvolle Zeit. Immer muss er nochmal zurück und den XXL- Kaffeebecher leeren mit dem alten Fotodruck drauf. Warum kann er ihn nicht so stehen lassen, mit noch was drin, bis zum Abend? Und immer setzt er nochmal ab. Eigentlich ist der Kaffee schon zu kalt, dennoch ist dieser vorletzte Schluck der beste, während er hinausschaut in den Garten, in die Jahreszeit, die gerade ist. Die Natur ist wie eine Frau. Sie liebt es zu dekorieren.
An deiner Verspätung bist du immer selbst schuld. Natürlich sind auch die anderen schuld, all die Lahmärsche. Viel gefangener ist man im stockenden Verkehr als im Stau. Der wäre einfach ein anderer Zustand. Der stockende Verkehr zwängt dich, die umspringenden Ziffern vor Augen, ein und richtet dich aus. Musst mittun, kannst nichts machen. Man sollte ausbrechen. Lenkrad rum, Gas, durch den mäßigen Gegenverkehr schießen, die Leitplanke durchbrechen. Und Abflug. Wie im Film „Thelma und Louise“. Weißblende.
Ein Frauenfilm. Seine Frau mochte den sehr.
Im Radio machen sie ein Gewinnspiel. Er war noch nie auf den Malediven. Er muss da auch nicht hin. Aber der Tod kommt ihm auf einmal wie die Malediven vor, und auf einmal hat er große Lust auf die Malediven.
Moritz Heger lebt in Stuttgart
und liebt auch die kleinen Formen,
Kalendergeschichten, Kurzgeschichten, Lyrik.
Letzte Romane:
„Aus der Mitte des Sees“, 2021
„Die Zeit der Zikaden“, 2024
beide bei Diogenes
Moritz Heger
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Moritz Heger, die Bildrechte bei Doris Lipp.