
Platons T-Shirt
- August 05, 2025
- by
- Volker Kaminski
Heute ist ein großer Tag. Ein Tag, der nie enden wird. Ein Tag, der ewig gegenwärtig bleibt.
Gibt’s denn so was? fragen Sie sich vielleicht.
Ich kann Ihnen versichern, ja. Der unvergängliche Tag existiert genauso wie das ‚Alles fließt’ des Heraklit.
Aber wann soll er denn sein, dieser unendliche Tag?
Jetzt. Genau jetzt. In diesem Moment, während ich auf der Straße meiner weißhaarigen Nachbarin begegne. Da steht Frau Knut an ihrer Hausecke, wo sie mich auf meinem Spaziergang abpasst, mir entgegen lächelt, mit ihren Händen meine ergreift und mich mit großen wachen Augen in den Blick nimmt.
Leider hat sie mir noch nie zugehört. Ich glaube, sie hört niemandem zu. Lange dachte ich, Frau Knut sei schwerhörig und verstehe nicht, was andere sagen und müsse darum immer weitersprechen. Aber heute ist es passiert – heute war der große Tag. Ich kam in Riemensandalen und einem weißen, weit geschnittenen T-Shirt an die Ecke, sie stand da und hielt mich fest, und die Sonne stand genau über uns.
Frau Knut: „Denken Sie nur, meine Urenkelin kommt nächstes Jahr in die dritte Klasse… sie fahren jetzt schon wieder in den Harz, zusammen mit der Mama… die treulose Tomate denkt auch nie daran, sich mal wieder zu melden…“
Ich: „Ja es ist Urlaubszeit.“
Frau Knut: „…wir haben jeden Sommer Idar-Oberstein gemacht, da war unsere noch so klein wie die Kleine jetzt, aber alles Tipp-Topp… ich kann mich noch genau an das Hotel erinnern… ach, wo ist das alles bloß hin, mein Gott, sagen Sie mir, wo ist es geblieben?“
Ich: „Es ist nicht weg. Es ist alles noch da.“
„Waaas? Wo?“ Zum ersten Mal unterbrach sie sich und sah mich neugierig an.
Ich: „Sie meinen, die Zeit hätte Ihnen alles geraubt? Alle früheren Tage wären unwiderruflich gelöscht? Kommt es Ihnen so vor?“
Frau Knut: „Ja, genau. Es ist alles gelöscht.“
Ich: „Und es ist nichts von damals geblieben?“
Frau Knut: „Natürlich nicht, sag ich doch!“
Ich: „Aber wir sind noch da, oder?“
Frau Knut: „Na hören Sie mal! Sie sind ja ein ulkiger Vogel.“ Sie lachte hell auf, packte wieder meine Rechte und schüttelte sie.
„Wir sind noch da“, beharrte ich, entzog ihr meine Hand und zeigte hinauf, „genau wie die Sonne. Sehen Sie? Nichts hat sich geändert.“
Frau Knut: „Moment mal, damals war ich aber noch eine junge Frau, das kann ich Ihnen sagen, noch nicht so eine alte Schachtel wie heute, und Sie werden auch nicht jünger, wenn ich das sagen darf…“
Ich: „Aber wir haben überlebt, während das Damals verschwunden ist. Die Gegenwart von damals ist vergangen, genau wie die Gegenwart von heute vergehen wird, es ist also gewissermaßen immer die gleiche Gegenwart, sieht es nicht danach aus?“
Frau Knut kratzte sich am Kopf. „Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“ In ihrem Blick lag trotz ihrer Zweifel ein waches Leuchten.
Ich hob sokratisch die Hand: „Die Gegenwart ist das einzige, was wir haben. Es ist immer Gegenwart, immer heute, obwohl alles fließt und von der Zeit getilgt wird. Das Heute verschwindet aber nicht. Ist das nicht merkwürdig?“
Frau Knut blinzelte in die Sonne. „Moment mal, gestern war aber… Sie bringen mich ganz durcheinander… ich meine, gestern war ein anderer Tag als heute.“
Ich: „Zweifellos. Aber sind Sie schon mal aufgewacht, und es war gestern? Oder morgen?“
Sie lachte wieder und wischte sich eine Träne aus dem rechten Augenwinkel. „Nein, natürlich nicht. Alles hübsch nach der Reihe, erst gestern, dann heute, dann morgen…“
Ich: „So ist es. Jeden Tag können wir uns darauf verlassen, dass das Heute genau zwischen gestern und morgen liegt. Gestern ist vergangen. Morgen ist noch nicht da. Aber das Heute steht wie ein Fels im Strom der Zeit, unverrückbar und nicht zu vertilgen. Es ist ununterbrochen heute!“
An dieser Stelle ließ Frau Knut eine leichte Erschöpfung erkennen. Sie wandte sich zu ihrem Haus um, schien aber noch nicht hineingehen zu wollen, sah wieder zu mir her und sagte: „Aber was ist denn dieser Dauerbrenner Heute, von dem Sie die ganze Zeit schwärmen?“
„Das ist nicht leicht zu beschreiben“, sagte ich, „es ist etwas ungemein Zartes und Feines“, ich nahm den Saum meines T-Shirts zwischen Daumen und Zeigefinger, „noch viel feiner als dieser dünne Stoff. Weißer, strahlender…“
„Wie der Laserpointer meiner Urenkelin!“ rief Frau Knut plötzlich und gemeinsam schauten wir durch die Blätterkrone zur Sonne hinauf.
Volker Kaminski, geb. 1958 in Karlsruhe, Studium Germanistik/Philosophie, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er veröffentlicht Kurzgeschichten, Glossen (Berliner Zeitung), zahlreiche Romane, im September 2025 erscheint der Roman „SCHÖNES leben“.
Zuletzt: „Die letzte Prüfung. Endzeitnovelle“ (PalmArtPress 2024), „RUA 17“ (PalmArtPress 2023), „Herzhand“ (PalmArtPress 2021), „Der Gestrandete“ (Lindemanns Bibliothek 2019), „Rot wie Schnee“ (Wortreich Verlag 2016).
Kaminski rezensiert Romane aus dem arabisch-persischen Kulturraum für die Deutsche Welle. Seit 2014 ist er Lehrbeauftragter an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und unterrichtet dort Creative Writing in einer Romanwerkstatt. Stipendien: Alfred Döblin-Stipendium, Stipendium Kunststiftung Baden-Württemberg, Stipendium Künstlerhaus Edenkoben.
Volker Kaminski
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Volker Kaminski, die Bildrechte bei Doris Lipp.