Ich mich

Ich mich

Wieder ist ein Tag vorbei. Ich habe nicht gemerkt, dass die Sonne untergeht. Der Tag vergangen ist. Die Läden schließen. Die Leute fahren von der Arbeit nach Hause. Ich war aufgestanden, hatte einen Kaffee getrunken, hatte zugesehen, wie die Händlerin von gegenüber die gelieferten Waren in ihren Laden räumte. Obst, Gemüse, Kühlkisten mit Milch und Joghurt. Bierkisten. Wie Leute von ihren Fahrrädern stiegen und vor dem Laden redeten. Der ist gestorben und dort hat die Scheune gebrannt. Wie Arbeiter sich Kaffee, Brötchen und Frikadellen holten, sich in ihre Laster und Autos setzten und aßen. Die Kinder tapsten artig über den Fußgängerüberweg zur Schule. Die kleine Imbissbude stellte zwei Tische und Stühle vor die Tür. Die Sonne ging auf.

Ich sah in die Luft, sah Möwen segeln. Ich stellte meinen Becher Kaffee ab und lief davon. Durch Priele, in denen Mais und Mohn wuchsen. Die Glocken läuteten im Meer. Ich lief vom Seedeich und immer weiter, quer übers Doggerland, bis ich endlich die Kreidefelsen von Dover sah. Im Victoria Bahnhof nahm ich einen Zug zur King’s Cross Station und fuhr hin und her. Ich traf einen indischen Gewürzhändler, der mir eine kleine Dose mit Marsalapulver schenkte und sein Gurkensandwich mit mir teilte. Beim nächsten Halt kam eine englische Dame in das Abteil, die Tee aus ihrer silbernen Thermoskanne servierte. Es fehlte an nichts, feines Porzellan, Zucker, Sahne, feine ziselierte Löffel. Sogar frischgebackene Scones legte sie auf eine Serviette. Die Dame fuhr nach Dover, wollte weiter nach Frankreich und einem befreundeten bretonischen Gastwirt die englische Kunst des Teetrinkens beibringen. Das bin ich ihm und Frankreich schuldig, sagte sie und lächelte. Kaffee oder Tee, der große Unterschied. Milch zuerst in die Tasse oder die Milch auf den Tee gießen. Klassenunterschiede.

Da erinnerte ich, dass vor dem Seedeich ein Schiff aus Amerika angelegt hatte. Direkt aus New York. Ich musste zurück. Den Dampfer durfte ich nicht verpassen. Ich hatte mir seine Ankunft gewünscht, als ich Kind war. Dass das Schiff kam und ich in die Welt schaukeln konnte. Ich musste die Dame und den Gewürzhändler verlassen, zurück in die Priele und entlang der Themse quer durch den Kanal und über das Wattenmeer laufen. Ich musste mich beeilen, und so war der Tag vergangen, ohne dass ich die Stunden gezählt hatte.

Das Wasser kam und ich lehnte an der Reling des Schiffes. Ich winkte den Touristen zu, die auf der Deichkrone ihre Hunde und sich selbst ausführten. Die Sonne versank im Wattenmeer. Das Schiff lief aus Richtung Elbmündung. Vorbei am Hamburger Leuchtturm in Cuxhaven. Vorbei. Ich stehe an der Reling und frage mich: Wie viele Ecken hat der Himmel? Nein, der Himmel ist unendlich rund. Entscheide ich und sehe, wie Enten sich verfliegen. Auf Nimmerwiedersehen. Der erste Stern blitzt zwischen den Wolken.

Ich laufe am Schiffsgeländer entlang. Und grüße den indischen Gewürzwarenhändler. Die Dame mit der silbernen Thermoskanne. Sie winken mir zu und drängen auf ein gemeinsames Abendessen. Ich sage zu, obwohl ich allein sein will. Ich lächle und sage zu. Ganz erfreut über das Wiedersehen. Lügen ist mein tägliches Handwerk, um mein Leben zu retten. Ich mich.
Zur Essenszeit gehe ich ins Restaurant, grüße und lächle. Bestelle einen Lobster und Roastbeef, trinke Eiswasser und eine halbe Flasche Whisky. Der Gewürzhändler zieht aus allen Taschen kleine Döschen und streut bunte Prisen über jeden Teller, der uns aufgedeckt wird. Die englische Dame und ich sagen: Oh.
Später in der Kabine trinke ich die andere Hälfte der Flasche Whisky und schaue über das Wasser in die Nacht. Es war ein langer Tag.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdischen-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. „Kommissar Simonsberg ermittelt am Rand der Welt“ (2024), „Fluchtlinien“ (2023) und „Nachtzüge. Gedichte und gefundene Zettel“ (2021).
Zuletzt erschienen: „Nur die Toten ruhen“ (Kriminalroman, 2025).
J. Monika Walther
Lesebuch Jay Monika Walther

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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