Man stirbt nur zweimal

Man stirbt nur zweimal

Das also war ihr Nachruf, dachte sie. Ein paar dürre Zeilen, faktenlastig, seelenlos. Durchaus zur Unzeit auch, denn: sie lebte. Sie lächelte, schüttelte den Kopf, sah zum Telefon, das nicht still sein mochte. Tote reden nicht, dachte sie, beachtete es nicht weiter. Sie wandte sich um, sah aus dem Fenster, wo sich ihr Blick im Grün des nahen Waldes verlor. Wann hatten die Menschen begonnen, so leichtgläubig zu sein? fragte sie sich. Jeder Meldung Glauben zu schenken? Womöglich war es nie anders gewesen, dachte sie, biss sich auf die Unterlippe, entdeckte einen Mäusebussard, der auf einem Baumwipfel hockte. Womöglich wird es nie anders sein. Eine Weile, dass sie reglos am Fenster stand, ihren Gedanken nachhing, die weder düster waren noch hoffnungsfroh, bis sie in das Gesicht des Nachbarn sah, der mit aufgerissenen Augen und offenem Mund in ihrem Garten stand. Du lebst! rief er, klatschte in die Hände, als er sie sah. Sie winkte ihm zu, ein wenig scheu, wie es ihre Art war. Ich lebe, flüsterte sie, lächelte. Ja, liebe Welt: ich lebe.

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