An der Hotelbar

Gastbeiträge

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Calvados und ein Cappuccino, als läge im Milchschaum eine umwölkte Aussichtshöhe, stehen vor ihm als Gedeck. Auf dem Barhocker läßt sich der Schmerzpunkt besser orten, der ausstrahlt im Rücken. Mit derselben Haltung saß er schon auf einem Baumstamm, während der Nachtwachen seiner Pfadfinderzeit, unter freiem Himmel, als alle anderen schliefen und die krummgeschlagenen Heringe auf dem felsigen Bodenuntergrund vorm Zelteingang lagen.

Doch für heute hat er genug geredet, deshalb schweigt er synchron mit sich. Befolgt sein ehernes Vertretergesetz: nicht vor achtzehn Uhr trinken und ja nie auf dem Zimmer anfangen, sich aus der Minibar zu bedienen. Ich brauche nicht zu wissen, was er generalvertreibt. In seinen besten Jahren vielleicht als Diplombeschlägefachmann im Auslandsvertrieb tätig, wäre alles ungelogen aber wahr. Und käme unweigerlich die Rede nach dem dritten Glas auf mich, was sollte ich ihm erzählen, außer wie ich vorher im dämmrigen Feierabendbild einen Bagger sah, der sich stützte auf seinen Schaufelarm und nachdachte über die Ausgegrabenheit.

Ich, mit meinem Phlegmagrübchen um die Mundwinkel, der kaum die Bühnenreife für ein Krippenspiel hat, selbst das Spontane noch einstudieren muß, und mit Buchbranche und Lesereise mir vorkäme wie ein Hochstapler. Deshalb bezahlt er jetzt wohl auch, mit einem stummen Abschiedsnicken zu mir hin. Und läßt nichts auf seine Zimmernummer schreiben, um den langen Abend zu verwischen. Später einmal, wenn dann ein jeder Trampelpfad wie von selbst in einen Jakobusweg mündet, werden wir uns wahrscheins oder sicherlich wieder begegnen, auf irgendeiner dieser Etappen, und uns erkennen.

Walle (Walter-Hermann) Sayer, 1960 geboren. Kindheit und Jugend im Schatten des 1478 erbauten und 60 Meter hohen Bierlinger Kirchturmes, der mit seiner Höhe „ein Veto ragt ins amtierende Licht“. Lebt und schreibt in Horb am Neckar. Veröffentlicht seit 1984 Gedichte und Prosa. Verschiedene Auszeichnungen, zuletzt: Basler Lyrikpreis 2017 sowie Gerlinger Lyrikpreis 2018; 2020/2021 erhielt er ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds.
Zuletzt erschienen: „Nichts, nur“, ein Auswahlband, 2021, „Mitbringsel“, Gedichte, 2019 und „Was in die Streichholzschachtel paßte“, Feinarbeiten, 2016.
Walle Sayer bei Literaturport
Nichts, nur – Kröner Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Walle Sayer, die Bildrechte bei Christoph Pfeiffer.

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