An einem Sonntag (in Paris)

Gastbeiträge

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Leer sind die Straßen, und wenn ich mich recht erinnere, war es auch früher an Sonntagen so, wenn ich ausnahmsweise samstags das Baguette vom elsässischen Bäcker weiter vorn am Ufer der Seine holen musste, weil Monsieur es so wollte, weil der andere geschlossen hatte, an dem ich sonst vorbeikam, nachdem ich die beiden Kinder zur Schule gebracht hatte. Warum scheint in der Erinnerung die Stadt indessen so groß, so laut? Ist diese Leere eine falsche Erinnerung, ein Schmuggelpfad des Denkens? Ein verwackeltes Sonntagsgefühl, das in all den Jahren schlummerte, jetzt unvermittelt hervorbricht? Paris schien mir doch immer dicht bevölkert zu sein. Vielleicht nicht hier, nicht in diesem Viertel, nicht an diesem Sonntag, vielleicht sind Ferien? Aber auch an den Tagen zuvor war es seltsam fad. Strichgerade Boulevards, zu beiden Seiten hohe Apartmenthäuser, manche Fassade wirkt erhaben, abweisend allemal, eine andere wieder vornehm vernachlässigt. Läden und Cafés mit Rollläden verschlossen, als hätte man aufgegeben, als wäre ohnehin nichts mehr zu erwarten gewesen.

Weit und breit keine Boulangerie, jedenfalls keine, die am Sonntag geöffnet hat. Nach einer Viertelstunde erst stoße ich auf eine kleine Auslage mit französischem Gebäck, ich zögere noch, als mir ein fremder Duft um die Nase weht. Nicht nach Café, nicht nach aufgebackenen Croissants, sondern süß-säuerlichem Fett. Drehe mich um, in der Glasvitrine gegenüber stehen Schüsseln mit asiatischem Gemüse. Die Frau, die mich bedient, kassiert nicht selbst, sondern ein asiatisch aussehender Mann kommt hinter der gegenüberliegenden Theke hervor, reicht mir freundlich die Tüte mit den Croissants und das Wechselgeld.

Als ich wieder vor der Tür stehe, sehe ich: eine junge Frau in eng anliegendem Sportdress mitten auf einer leeren Kreuzung. Sie hält das linke Handgelenk dicht vor ihr Gesicht, worauf schaut sie so lange? Was sagen ihr die digitalen Zahlen, wie viele Kilometer, wie viele Kalorien sie schon an diesem Morgen auf kahlen Straßen verloren hat?

Place de la Concorde, die Station ist geschlossen, ich steige Madeleine aus. Fauchon hat die Schokolade für den Sonntag aus dem Schaufenster geräumt, die Juweliere ihren Schmuck. Kameras, wird auf Schildern gewarnt, seien überall angebracht. Weiter und hinüber zu den Tuilerien, im Jeu de Paume ein Film über eine verschwundene Großmutter in Kambodscha, eine von vielen, die dem Regime von Pol Pot zum Opfer gefallen ist, der Enkel (und Filmemacher Vandy Rattana) sucht vergebens ihr Grab. Der Bürgermeister des Dorfes weiß von nichts, seinen Vater interessiert es nicht. Das Schweigen im Film ist beinah unerträglich.

In der Ausstellung „Le fil rouge“ sind Fäden gespannt: quer durch Gänge, kennzeichnen unsichtbaren Raum. Die schwarzen Fäden der Künstlerin Chiharu Shiota sind wie dicht gesponnene Netze. Fred Sandback will mit ein, zwei Fäden das Nichts andeuten. Im Video von Hans Op de Beeck flickt ein sichtlich gealterter Punker auf einer Parkbank in apokalyptischer Umgebung seiner Lady das Hemd; Weltende.
Dann vom Ausgestellten ein Blick hinaus auf die regennasse Stadt.

Dieses sonntägliche Grundgefühl tiefster Nichtigkeit ist stärker denn je, ist der rote Faden durch den Tag, lässt sich nicht herausziehen, ohne alles aufzulösen. Auch Worte können wie Fäden Abwesenheit verdeutlichen, alles, was nicht ist an einem Sonntag wie diesem. Nicht einmal ein Schatten von Wirklichkeit.

Abends singt eine Frau in einem Café: «Nos silences nos absences se confodent et se touchent.»

Ein Band mit solchen und anderen Texten sowie Fotografien von Mine Dal ist geplant.

Alice Grünfelder, Buchhändlerlehre und Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, lange Jahre Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, unterrichtet seit 2010 Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen. Ihr Roman Wüstengängerin erschien 2018, ihr Essay Wird unser MUT langen? 2019. Nominiert für den Irseer Pegasus Preis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.
Alice Grünfelder

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Alice Grünfelder, die Bildrechte bei Mine Dal.

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