Aussage von Sophie A.

Gastbeiträge

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Die Art, wie er auf der Bank saß, ließ mich gleich wieder wegschauen. Ich wollte seine Aufmerksamkeit nicht auf mich ziehen. Am späten Vormittag sind in der Stadt oft Leute unterwegs, die mit dem Alltag nicht zurechtkommen, einen ansprechen, etwas verlangen oder in ein Gespräch verwickeln, aus dem man nicht mehr herauskommt, ohne sich bloßzustellen.

Ich trug meine Tasche mit den Büchern also an ihm vorbei und stellte sie nach ein paar Schritten auf den Boden. Es war ein sonniger Morgen. Zum ersten Mal spürte ich die Wärme auf meinem Gesicht und dachte, dass das Schlimmste vielleicht überstanden sei. Als das Elfer-Tram kam, stieg ich ein. Etliche Einzelplätze waren noch frei, um diese Tageszeit ist das Tram nie voll, und ich wählte den neben der Tür, meinen Lieblingsplatz.
Erst als er sich vor mich setzte, bemerkte ich, dass er etwas in der Hand hielt. Über seine rundliche Schulter, die unter dem T-Shirt ein wenig über der Lehne des Vordersitzes quoll, sah ich die Eule. Sie war vergoldet, mit einer billigen Sprayfarbe, und steckte auf einem Stab. Ein Plastikspielzeug. Es passte nicht zu einem erwachsenen Mann, und an manchen Stellen war die Farbe auch schon abgeblättert. Aber mein Blick blieb nicht deshalb daran hängen. Mit seinen fleischigen Fingern strich der Mann der Eule über den Kopf, und vielleicht summte er dazu. Um sie zu trösten?
An der nächsten Haltestelle erhob sich der Mann wieder. Enttäuschung streifte mich, Ärger, dass er so schnell wieder ausstieg. Während er darauf wartete, dass die Tür sich öffnete, betrachtete ich seine Rückseite. Das graue T-Shirt steckte in einer Jeans, aus der ein weißer Unterhosenrand ragte. Die Jeans war nicht billig, auch das T-Shirt nicht, und sein schütteres Haar war gut geschnitten. Einen Moment lang sah ich ihn noch auf den Stufen, die zum Fluss hinunterführen, dann fuhr das Tram weiter.

Zuhause legte ich die Bücher auf den Tisch. Die meisten waren in Leinen gebunden, abgegriffen. Gewöhnlich blättere ich nur in ihnen, schaue mir die Abbildungen an und die Markierungen der früheren Leser, dünne Bleistiftestriche, einzelne Wörter oder Ausrufezeichen. „Verkehrt!“ stand da in altmodischer Schrift. Was tat der Mann mit der Eule am Fluss unten? Früher wäre er auf einem Seil übers Wasser gelaufen, hätte behauptet, er könne fliegen. Er nahm die Menschen beim Wort, machte die Täuschung zur Wahrheit, die Wahrheit zur Täuschung, und die Leute verziehen ihm. Aber gewiss haben sie ihn auch gefürchtet. Auf den Abbildungen hat er immer wieder ein anderes Gesicht, als sehe jeder seine eigene Angst in ihm. Niemand ist so klug, dass er nicht von einem Toren betrogen würde, stand irgendwo. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt, und ohne die Eule hätte ich ihn gar nicht erkannt. Heute musste es einen Namen für sein Verhalten geben, eine Diagnose, Medikamente. Ich schloss das Buch und legte es zu den anderen. Die Nachmittagssonne schien durchs Fenster, und ich sah, dass die Scheiben schmutzig waren. Für einen Augenblick wünschte ich mir, die Eule zu sein, die er wie einen Spiegel vor sich hielt, und seinen Finger zu spüren.

(Akte Eulenspiegel, Vermisste Personen, Aussage von Sophie A., Bibliothekarin im Ruhestand, Februar 2024)

Gabrielle Alioth wurde 1955 in Basel geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war als Konjunkturforscherin tätig. Seit 1984 lebt sie als Schriftstellerin in Irland. Neben Romanen publiziert sie Kinder-, Reise- und Sachbücher sowie Lyrik auf Englisch, arbeitet journalistisch und gibt Schreibkurse.
Zuletzt erschienen: „Seapoint – Strand“, Caracol Verlag, 2022
Gabrielle Alioth

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Gabrielle Alioth, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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