Berufsgeheimnisse

Gastbeiträge

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Dreißig vergangene Jahre. Abschlußklasse, Abiturjahrgang, die wir nun dasitzen vor der runden Klippe dieser Zahl. Mit Tätigkeiten und Feldern, die sich erstrecken bis ins Graugebiet der Schläfen: die erschöpfte Krankenschwester, die jetzt Pfarramtssekretärin ist, der Verwalter der Insolvenz, ein angesäuselter Unfallsachverständiger, stocksteif der Sicherheitsbeauftragte. Ab wann das Recht der Gewohnheit zum Gewohnheitsrecht wird, darin kennt die faltenstrenge Juristin sich aus, für die einmal fast alle schwärmten.

Im Zeitmanagement, klingt es vom Tischende herauf, reiche die Planungssicherheit oft kaum bis zum übernächsten Augenblick. Überrage jedoch der zweite Zeh den großen, zeuge das, so der Podologe, von einem ausgeprägten Willen. Eine diplomierte Ratlosigkeit schweigt vor sich hin. Die Maskenbildnerin hat viel von den Wolken gelernt. Aber auch das Berufsgeheimnis des Lageristen gibt es, der als Autodidakt, Meisterschüler seiner selbst, die Sonntage damit verbringt, einen Schmerz zu aquarellieren.

Es ist noch dunkel, wenn man morgens aufbricht, schon dunkel, wenn man abends heimkommt, konstatiert sein winterlicher Arbeitstag. Während der frühere Nebensitzer, den du aus den Augen verloren hattest, geduldig versucht, dir sein Spezialgebiet zu erklären: wie er mit den Zufallsvariablen der Stochastik nach der Formel sucht, mit der man die Urteilskraft der geworfenen Münze berechnet und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, daß Trauzeuge und Brautjungfer sich verlieben und der mit der vierstelligen Startnummer gewinnt.

Aus:
Walle Sayer: „Das Zusammenfalten der Zeit“, erschienen im September 2022, Kröner Edition Klöpfer.

Walle (Walter-Hermann) Sayer, 1960 geboren. Kindheit und Jugend im Schatten des 1478 erbauten und 60 Meter hohen Bierlinger Kirchturmes, der mit seiner Höhe „ein Veto ragt ins amtierende Licht“. Lebt und schreibt in Horb am Neckar. Veröffentlicht seit 1984 Gedichte und Prosa. Verschiedene Auszeichnungen, zuletzt: Basler Lyrikpreis 2017 sowie Gerlinger Lyrikpreis 2018; 2020/2021 erhielt er ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds.
Zuletzt erschienen: „Das Zusammenfalten der Zeit“, Prosagedichte und Erzählminiaturen, Kröner Edition Klöpfer 2022, „Nichts, nur“, ein Auswahlband, Kröner Edition Klöpfer 2021, „Mitbringsel“, Gedichte, Klöpfer 2019 und „Was in die Streichholzschachtel paßte“, Feinarbeiten, Klöpfer&Meyer 2016.
Walle Sayer bei Literaturport

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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