Cosa fai?

Gastbeiträge

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Es überraschte ihn nicht mehr, dass die Tauben deutsch sprachen. Untereinander sprachen sie italienisch, aber wenn sie sich an ihn wandten, sprachen sie deutsch. Wer bist du? hatten sie am Anfang gefragt. Und: Was suchst du? Oder: Was willst du? Aber vielleicht hieß das auch: Was spielst du?

Ich fotografiere, sagte er. Ich fotografiere den Himmel. Der Himmel war nämlich sehr schön über der Terrasse. Morgens luzid blau, abends lodernd rot. Die Metamorphosen der Wolken: Siehst du, was ich sehe? Rasch! Gleich ist es etwas anderes.

Er schrieb nichts oder fast nichts in diesem langen Sommer. Er las die Repubblica und den Corriere della Sera. Italien wurde Fußball-Europameister, Kabul fiel wie nichts zurück in die Hände der Taliban. Die Zahl der Covid-Infektionen stieg wieder an, die CO2 -Konzentration erst recht, mit Migranten überladene Boote suchten nach rettenden Häfen.

Seinesgleichen geschah also sozusagen. Oder wurde es mehr und mehr – würde es eines Tages in immer näherer Zukunft nicht doch einmal zu viel sein?

Was tust du? fragten die Tauben. Cosa fai? – jetzt sprachen sie doch italienisch mit ihm. – Niente? Come mai? – Was konnte er darauf antworten?

Sono un scrittore, sagte er. Scrivo. Che cos’ altro posso fare?
Besinn dich! sagten die Tauben nun wieder auf Deutsch.
Breiteten die Flügel aus und hoben ab. Zwei Flügelschläge genügten.
Und dann ein Gleitflug von einer Schönheit, die ihm die Sprache verschlug.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät, Studium. Mitarbeit in der Wiener „Arbeiterzeitung“. Mitbegründer der Literaturzeitschrift „Wespennest“. Seit etwa 1975 freischwebender Schriftsteller.
Literarischer Durchbruch mit „Die kleine Figur meines Vaters“. 2005 mit „Die schwangere Madonna“ und 2007 mit „Eine sehr kleine Frau“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Zuletzt erschienen: „Der Jahrhundertroman“, Residenz-Verlag, Salzburg 2021, „Das ist mein Fenster. Fast alle Gedichte und Songs“, Sonderzahl 2018 und „Siebeneinhalb Leben“, Deuticke 2018.
Peter Henisch
Rezension zu „Der Jahrhundertroman“

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Peter Henisch.

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