Das Lied der Wildnis

Gastbeiträge

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Mich durchströmt ein Glücksgefühl, hier sein zu dürfen in einer der letzten, vom Menschen unbeeinflussten Wildnisgebiete unserer Erde. Ich sitze am Ufer eines Sees in Kanada weit oben im Norden der Provinz British Columbia. Ein Elch mit ausladendem Schaufelgeweih tritt aus dem Wald heraus und zieht gemächlich zum Äsen in die sumpfigen Wiesen. Auf einmal schwebt ein sehnsuchtsvoller Laut über das Wasser, eine weithin tönende, melancholische Klage.

Es ist die Stimme des Eistauchers, des Loon, wie er in Kanada genannt wird. Die rauen und zugleich weich schwingenden Töne dieser Vögel scheinen wie für diese karge, weltabgeschiedene Landschaft gemacht und verstärken das Gefühl von Einsamkeit. Der wildromantische Gesang des Eistauchers ergreift mich tief und lässt mein Herz schneller schlagen. Bald werden diese Töne nicht mehr zu hören sein, denn die Eistaucher verbringen den Winter im Süden. Die Tage werden schon kürzer, der Herbst beginnt. Aber gerade dann, im Winter, will ich wiederkommen.

Während des Sommers bin ich zur Blockhütte am Thukada Lake gewandert, der mitten in den Rocky Mountains liegt, und habe geprüft, ob sie eine geeignete Unterkunft für den Winter sein kann. In der kältesten Jahreszeit will ich in der einsam gelegenen Blockhütte überwintern. Schon lange bewegt mich der Wunsch, ohne menschlichen Kontakt die Natur hautnah zu erleben. Dieser Traum wartet seit meiner Jugend auf seine Erfüllung, damals sind alle meine Reisesehnsüchte entstanden. Die Sehnsucht nach der Wildnis hat mich nie wieder verlassen, darum war ich mir sicher: Irgendwann werde ich meinen Traum verwirklichen.

Ein Buschpilot fliegt mich im Winter zum zugefrorenen See, landet sicher auf dem Eis. Lebensmittel für vier Monate, die ich in der 600 Kilometer entfernten Stadt Prince George eingekauft habe, werden entladen. Die Hütte, die ich im Sommer kennengelernt habe, ist klein. Sie besteht aus einem einzigen ebenerdigen Raum, vier mal fünf Meter groß, mit einer Tür, drei Fenstern, zwei Öfen, einem Holztisch mit Hocker, und einem Bettgestell, auf dem ich meinen Schlafsack ausbreite.

Die am Waldrand stehende Blockhütte ist nur wenige Meter vom See entfernt, wo ich aus einem Eisloch das nötige Wasser schöpfe. Auf etwa 1800 Meter Höhe in den Rocky Mountains liegt mein Domizil und ist von fast 3000 Meter hohen Bergen umgeben. Mein Blick ruht auf den vereisten Gipfeln, schweift über die weite Eisdecke des Sees, der von dunklen Nadelbäumen umgeben ist. Alles schweigt und spricht doch irgendwie zu mir. Die Berge sagen: Wir sind unerreichbar. Die Bäume bekunden: Seit ungezählten Wintern beugen wir uns ächzend unter der Schneelast. Berge und Bäume richten ihre Stimmen warnend an mich: Du bist nur Gast. Wenn du hier bleiben willst, dann füg dich ein!

Jeden Morgen, egal ob Sonne oder Schneegestöber, schnalle ich die Skier an und ziehe meine Runden am Fluss entlang, der aus dem See fließt und wegen seiner heftigen Strömung nicht zugefroren ist. Dabei halte ich Ausschau nach Tierspuren im frischen Schnee. Rings um meine Hütte leben Schneehühner, Schneeschuhhasen, die tatsächlich so heißen, Marder und Meisenhäher. Später, als es wärmer und die Tage heller geworden sind, wachen die Eichhörnchen aus dem Winterschlaf auf, leisten mir Gesellschaft und besuchen mich sogar in der Hütte. Ab und zu kommt ein Fuchs vorbei, auch Luchse, Elche und Vielfraße lassen sich sehen und einmal sogar ein Wolfsrudel.
In den hohen Nadelbäumen am Fluss übernachtet ein Weißkopfseeadlerpaar, jeder auf seinem eigenen Baum. Am Morgen begrüße ich sie, bevor sie zur Nahrungssuche hinab in die Täler fliegen. Ich freue mich, so berühmte Nachbarn zu haben, denn die Weißkopfseeadler waren vom Aussterben bedroht.

Beschwingt kehre ich von meinem morgendlichen Ausflug zu meiner Hütte zurück. Weißer Rauch kräuselt sich aus dem Schornstein. Der Anblick vermittelt mir ein Gefühl von Geborgenheit. Wie wunderbar, dass mich dort niemand erwartet, dass dies mein Reich ist, mein Zufluchtsort.

Mehr über meine Erlebnisse in meinem Buch:
„Mein Blockhaus in Kanada“, Malik Verlag, 2019

Carmen Rohrbach, geboren in Bischofswerda. Biologie studiert und von der Neugier auf die Welt gepackt. Wegen des Versuchs, der DDR zu entkommen, zwei Jahre inhaftiert. Von der Bundesrepublik freigekauft, promovierte sie am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie. Erhielt einen Forschungsauftrag, der sie auf die Galapagos-Inseln führte. Lebte ein Jahr lang auf einer kleinen Insel, unter Meerechsen und der Sonne des Äquators. „Inseln aus Feuer und Meer“ entsprang dieser Erfahrung, zahllose Bücher folgten.
In ihren Büchern lässt sie die Leser Anteil nehmen an ihren abenteuerlichen Reisen nach Südamerika, Afrika, Asien, Arabien. Seit vielen Jahren zählt sie zu den populärsten deutschen ReiseschriftstellerInnen. Ihre jüngste Publikation, „Mein Blockhaus in Kanada“ (Malik Verlag, 2019), handelt von einer Reise in die Stille des kanadischen Winters, drei Monate voll Einsamkeit. Als Weggefährten Luchse, Elche, Weißkopfseeadler. Und die Kälte.
Carmen Rohrbach

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Carmen Rohrbach.

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