Der Flaum über den Lippen

Gastbeiträge

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Auf der Suche nach einem freundlichen Zeichen in ihrem Gesicht, diesem ebenmäßigen Antlitz, entdeckte ich die Farbe ihrer Augen.
Der Geruch ihrer Haare war der Weihrauch.
Mein Gefühl war einen Augenblick der Altar der Zärtlichkeit.
Mit einer leisen Geste ließ sie mich wissen, sie habe verstanden und das Gefühl in ihr sei geboren.
Die Spannung zwischen unseren Gedanken konnte man lieblich nennen. Das Schweigen hielt sie.
Wir senkten das Haupt.
Wir blickten uns in die Augen, die vor Glück glänzten.
Das Heil in der Körpermasse, ein Hochgefühl, war die Wandlung.
Langsam, ganz langsam setzte das Lippenbeben ein.
Die Gesichter waren Kelche. Mit den Lippen stießen wir an. Auf die Menschen. Und das Leben.
Wir verkündeten den Frieden.
Unsere Predigt galt jetzt der Welt.
Die, die uns hören wollten, vernahmen uns. Mit dem Herzen.
Sie erkannten.
Wir hoben das Haupt und blickten hinauf. Weit. Ganz weit. Und noch weiter.
Unsere Haare, die sich verfingen, und sei es der Flaum über den Lippen, waren die Gewänder des Hochamts.

Der Händedruck lud ihn ein. Die Sachtheit ließ ihn den Atem wechseln.
Das war die Brücke, auf der sie einander entgegenkommen konnten.
Das Treffen ergab den Sinn.
Ihr Wunsch war das Gebet.
Sie nahmen sich an den Händen. Sie verhießen sich Frieden.
Ihre Körper berührten sich mit großer Zuversicht.
Ihr Wollen war jetzt im Einklang.
Langsam, ganz langsam und behutsam ließen sie sich nieder.
Am Boden grüßten sie sich mit den Fingerkuppen.
In Kurven führten sie ihre Hände langsam und immer langsamer über den Körper des anderen.
Keine Silbe. Hier war das Verständnis ohne jedwede Sprache entstanden.
In ihren Augen glänzte das Glück, das anderswo in ihnen Glücksgefühl hieß.
Jetzt.
Jetzt verlangten sie die Vollendung.
Ihre Leiber waren das Geschenk.
Sie nahmen es an.
Sie erkannten sich.
Und wie.
Die Hoch-Zeit hatte den Namen Ein-Heit.
Ihre Empfindung galt allen, die für das Schöne waren.
Sie sprachen mit dem Händedruck.
Sie waren die Erlösung.
Jetzt.
Jetzt waren sie selig.
Immer.

Dann, schließlich, nach dem Immer, wollten sie die Erlösung, dieses Heil in ihrer Körpermasse, noch einmal.
Noch einmal spüren. Wie früher.
Vielleicht auch fester. Tiefer.
Fester. Tiefer. Nicht inniger. Inniger wäre nicht möglich. Möglich gewesen. Nicht denkbar. Nicht erreichbar wohl.
Sie wollten es beide. Und wie sie es wollten. Gleich. Jetzt.
Jetzt berührte sie mit den Fingerkuppen, ganz spitz, etwas.
Sie berührte etwas Zylindrisches. Zylinderförmiges.
Nicht das, nicht ihn, etwas anderes. Etwas ganz anderes. Etwas Kühles. Kühleres.
Ein besonderes Blau und ein bestimmtes Silber leuchteten. Spiegelten sich geradezu in ihren glückglänzenden Augen.
Sie hielt es spitz mit den Kuppen dreier Finger der rechten Hand. Diese Rechtshänderin. Rechtshänderin in allem.
Mit dem Daumen, dem Zeigefinger und dem Mittelfinger. Drei Kuppen, drei Finger. Für eine Dose.
Sie hielt sie ihm entgegen. Und wie sie hielt. Wie sie sie hielt. Die Dose.
Und dann sagte sie, ganz langsam und noch langsamer, er solle nippen, trinken, schlucken, wirken lassen. Er werde dann, sie würden dann. Noch einmal. Fester. Tiefer. Weil er dann wäre wie ein Tier, ein Stier, ein roter.

Janko Ferk (* 11.12.1958 in Sankt Kanzian am Klopeiner See / Škocijan v Podjuni, Kärnten) ist ein österreichischer Richter, Wissenschaftler und Schriftsteller. Er ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt und Honorarprofessor für Literaturwissenschaften an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt / Univerza v Celovcu. In den Jahren von 1995 bis 2002 war er Vizepräsident des Kärntner Schriftstellerverbands.
Er hält Vorträge an ausländischen Universitäten, darunter der Stanford University in Palo Alto, und war mit einem Referat über Franz Kafka Vortragender auf der Convention 2011 der US-amerikanischen Modern Language Association in Los Angeles. Er hat im In- und Ausland rund zweihundert literarische Lesungen gehalten und in mehr als einhundert literarischen Anthologien in Österreich, Deutschland, Slowenien, den USA und anderen Ländern veröffentlicht. Für die Tageszeitung Die Presse verfasst er regelmäßig Buchrezensionen und Gastkommentare.
Auch ist er Initiator und Mitbegründer des Weblexikons der Kärntner slowenischen Literatur.
Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Die Istrische Riviera. Eine Reisemonografie, Graz 2023, sowie Die Slowenische Riviera. Eine Reisemonografie, Graz 2022
Janko Ferk (Wikipedia)
Janko Ferk bei Literaturport

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Janko Ferk, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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