Der tibetische Ring

Gastbeiträge

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Abends sitze ich rauchend am Küchenfenster und versuche das Denken zu vermeiden. In der Nacht halte ich mein Dasein nicht aus, kann mir nicht vorstellen, es je wieder auszuhalten. Ich habe zu lange auf mein Leben gewartet, mich zu lange durchgebissen durch einen grauen Zustand, von dem ich dachte, dass er zu irgendeinem Glück führen würde. Ich habe den Faden verloren. Meine Hoffnung hat sich so weit aufgelöst, dass sie nicht ausreicht zum Weiterleben. Es gibt nur eine Möglichkeit. Wenn ich mich umbringe, muss ich die Kinder auch umbringen. Ich erschrecke vor dem Gedanken und mein panischer Körper schwitzt das Bett nass. Aus dem wunden Gelände in meinem Brustkorb sticht es von innen gegen meine Schultern wie kochender Dampf. Mein Blut ist kälter als meine Haut. Alles ist falsch. Ich gehe ins Bad, überlege, ob die Tabletten für die Kinder und mich reichen. Ich möchte alle schlucken, schlucke zwei, stecke die Schachtel zurück, gehe ins Bett, zünde mir eine Zigarette an.

Kurz falle ich in einen Halbschlaf und träume wieder von einem Gang mit vielen verschlossenen Türen. Ich habe keinen Schlüssel. Im Aufwachen bin ich froh, keinen Schlüssel gehabt zu haben. Ich will nicht wissen, was hinter den Türen steckt. Mit dem Tageslicht wird sich das bewährte Muster über mein Leben legen. Ich werde gebraucht. Im Moment ist es dunkel. Ohne Licht wird alles gleich. Mein stolzer Grundsatz, mich im Leben nicht bedienen zu lassen, alles alleine zu können, mir zu nehmen, was ich brauche, ist sinnlos geworden. Ohne zu wissen, was ich brauche, kann ich mir nichts nehmen.
Die Stadt fängt an zu rauschen, der Himmel ist wieder da, die Welt ist nicht untergegangen. Ich sehe in den beleuchteten Spiegel und meine Rolle aktiviert sich. Mit braunem Kajal und Wimperntusche male ich meine müden Augen an. Das Licht blendet. Meine Augen tränen während ich versuche, sie aufzureißen und mit den Fingern Luft hinein wedle, um die Schminke zu trocknen. So wird es nochmal gehen. Ich werde meine Aufgaben machen, bis es wieder dunkel wird.

Im Hausflur winke ich den Schultaschen der Kinder hinterher, werfe einen Kuss die Treppe runter. Mit Kaffeetasse und Zigarette stehe ich am Küchenfenster, sehe mir den verdammten Herbst an und stelle mir vor, die Kinder würden wieder klein werden und Laub in die Luft werfen, zurück in die Bäume. Der Blätterregen würde hinauf wirbeln und oben an den Zweigen hängen bleiben. Am liebsten will ich mich in die raschelnden Berge wühlen und heulen, ob meiner Ohnmacht. Fremde Mütter würden hinter Küchenfenstern zusehen, so wie ich meinen Kindern vor wenigen Jahren im Hof zugesehen habe. Niemand würde mich verstehen, wenn ich mit Bindfäden Blätter an die Zweige nähe, mit Reißzwecken feststecke, mit Spucke anklebe. Meine Verzweiflung könnte ich als Kunst verkaufen. Als Theaterstück. Verrückt werden ist auch eine Möglichkeit.
Ich esse ein Brot, na gut, esse noch eins. Der Schimmel im Marmeladenglas ist die Erlaubnis aufzuhören.
Es klingelt. Ich überlege, wer mir jetzt helfen könnte. Ein Kind wäre gut. Im Gefühl habe ich es schon im Arm. Aber die Kinder sind in der Schule. Es ist die Nachbarin, die eine Reisetasche borgen will.
„Kaffee?“ Sie sieht zu, wie ich Wasser in die Kanne laufen lasse. „Sag mal, was wiegst du eigentlich?“ Ich zucke die Schultern und mache mich zwei Kilo schwerer. „So fünfzig?“ „Bist du irre?“ sagt sie und sieht wirklich erschrocken aus. „Sind die Tabletten. Helfen überhaupt nicht. Aber ohne geht’s auch nicht.“
Es sind nicht die Tabletten. Es ist mein Leben. Ich will meinen Körper nicht mehr ernähren in einem Leben, das ich nicht leiden kann.
„Geh nach Herzberge, Mensch. Am besten gleich.“ Wenn es nicht die Psychiatrie wäre, könnte es sich nach einer Herberge anhören, in der man erschöpfte Großstadtmütter herzlich aufnimmt. Ich bin gesund, habe einen Job und Kinder. Ein eigenes Auto, keinen Mann, der mich nervt. „Alles bestens“, sage ich und heule. Die Nachbarin streichelt meinen mageren Rücken.

Als ich nach der Nachmittagsvorstellung aus dem Kindertheater komme, schiebt die Nachbarin meine Reisetasche aus ihrer Wohnungstür. Ich halte die Hand auf. „Blumen gießen?“ Sie lässt den Schlüssel am Zeigefinger baumeln. Als ich ihn nehmen will, schließt sie die Hand und zeigt auf mich mit dem Schlüsselfinger. „Nein! Du gehst in die Klinik.“ Ich erkläre, dass ich jeden Tag Proben und Vorstellungen habe, nachts Jacken nähen muss, wer soll denn solange Geld verdienen und sich um die Kinder kümmern? Während ich das sage, merke ich, dass ich die lustige Prinzessin nicht spielen kann. Sinnlos, das zu proben.
Am nächsten Morgen konzentriere ich mich auf jeden Handgriff. Jedes Wort am Telefon muss entschieden klingen. Diesen Kraftakt muss ich noch schaffen. Den letzten Tag überstehen.
Mechanisch packe ich meine Sachen, räume die Wohnung auf, langsam, ohne Wut und versuche, nur an das zu denken, was ich jetzt tue.
Am Abend sage ich den Kindern, dass sie ab morgen bei den Großeltern wohnen. „Mama muss zur Kur.“ Die Große weint, die Kleine tröstet sie. Ich weiß nicht, warum die Kleine stärker ist als die Große. Alles ist falsch.
Als ich die Kinder bei meinen Eltern abgebe, nehme ich im Bad den großen, in Gold gefassten Jadering aus der Schmuckkiste meiner Mutter und stecke ihn mir an. Den hatte ich vor Jahren als Glücksbringer zur Russischprüfung mitgenommen. Den brauche ich jetzt.

Der Ärztin erkläre ich, dass ich in Ruhe gelassen werden will. „Keine Therapie, keine Analyse, oder son Scheiß! Nur die Tabletten loswerden.“
„Drei Wochen Entzug“, sagt sie.
Morgens um sieben müsse ich mitgehen zum Schwimmen. Das sei die einzige Bedingung. Mein Zimmer ist kahl und hässlich. Ich setze mich aufs Bett. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich nichts zu tun. Der Brief, den ich an die Kinder schreibe, klingt, als wäre ich in einem langweiligen Urlaub. Tatsächlich fühle ich mich wie im Gefängnis. Das Essen ist schlecht, das Bett hart, der Ausblick trostlos.
Die Große schreibt nach einer Woche zurück in das KEH Berlin-Lichtenberg, Herzbergstraße neunundsiebzig. „Find ich gut, dass du morgens schwimmen gehen musst. Das würdest du ja nie freiwillig machen!“ Ich bin verblüfft über die altkluge Ratgeberin und bekomme eine Ahnung, dass die Kinder irgendwann ohne mich klarkommen werden. Nachts liege ich wach, starre an die Decke und warte. Es wundert mich, dass ich die Kinder nicht vermisse. Das Gefühl ist ausgeschaltet.
Nach dem Schwimmen gehe ich zurück ins Zimmer, lege mich ins Bett bis zum Mittagessen. Für die Nachmittage mache ich kleinstmögliche Pläne. Einmal um den Teich. Hundert Meter. Das reicht. Morgen Fingernägel schneiden. Fußnägel übermorgen. In der dritten Woche stehe ich nachts auf, gehe in die Küche und mache mir im Dunkeln ein Knäckebrot mit Marmelade. Danach noch eins und dann noch eins. Die Laterne scheint bläulich durch die Lamellen vorm Fenster und legt Lichtstreifen über den Tisch. Ich kann nicht aufhören zu essen, bis das Marmeladenglas leer ist. Die Nachtschwester schaltet das Licht an, steckt die Hände in ihren Kittel, lehnt sich in den Türrahmen. „Na, da hat wohl eine ihren Hunger wiedergefunden.“
Am Abend vor der Entlassung vermisse ich meine Kinder mit schmerzhafter Gewalt, dass ich ernsthaft überlege, aus dem zweiten Stock in das Gebüsch zu springen. Wenn ich die Ärztin um den Stationsschlüssel bitten würde, müsste ich das kindische Gefühl erklären, das mir jetzt so gesund vorkommt. Sie würde darin nur meinen Widerwillen sehen, mich in vorgegebene Abläufe zu fügen, und es vielleicht nicht gesund finden. Sie würde doch nicht sehen, dass ich wieder normal bin, sondern mich zurück ins Zimmer schicken. Dabei bin ich endlich aufgewacht!
Am Morgen muss ich auf die Waage und werde gelobt. „Na sehnse. Drei Kilo mehr.“ Ich umarme alle Patienten. Selbst die, mit denen ich nicht geredet habe, weil ich mich von ihrer Verrücktheit nicht anstecken lassen wollte. Jetzt gebe ich großzügig allen etwas ab von meiner Gesundheit. Die Ärztin sagt, die Euphorie sei normal bei der Entlassung und würde sich schnell legen. Notfalls solle ich wiederkommen. Und übrigens sei ich nicht tablettenabhängig gewesen.
„Jaja.“

Mit den Kindern in den Armen rolle ich über die Wiese vorm Haus meiner Eltern. Zuhause hat die Nachbarin Rosen auf den Küchentisch gestellt. Die Ananasdose aus meiner Manteltasche stelle ich daneben. Ein Patient hat sie mir für einen Kuss geschenkt. Der Klinikaufenthalt kommt mir fern und unwirklich vor, wie ein Traum, in dem alle verrückt waren. Heute früh war ich selbst noch verrückt. Jetzt will ich sorgfältig sein, überlegte Dinge tun, alles richtig machen. Normal bleiben!
In Bademänteln sitzen die Kinder am Tisch, beißen in ihre Hawaii-Toastbrote und sehen mich an, als hätte ich ein Clownsgesicht.
Zum Einschlafen lese ich den Struwwelpeter vor. Mein Name steht auf der ersten Seite, hineingekrakelt mit einem schlecht gespitzten rosa Buntstift. Der fliegende Robert war meine Lieblingsgeschichte.
Robert aber dachte: Nein!
Das muss draußen herrlich sein!
Seht den Schirm erfasst der Wind.
Und der Robert fliegt geschwind.
Durch die Luft so hoch, so weit.
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
Wo der Wind ihn hingetragen,
Ja, das weiß kein Mensch zu sagen.
Ich klappe das Buch zu, küsse die Kinder, mache das Licht aus, schließe die Tür und fange an, mich selbst zu bemitleiden, wie ein Kind, dem ein Leid zugefügt wurde. Ich muss auf den fliegenden Robert in mir besser aufpassen. Ich darf ihn nicht mehr wegfliegen lassen! Mein Bett schiebe ich unters Fenster. Wenn ich nicht einschlafen kann, sehe ich wenigstens den Himmel. Warum bin ich nicht eher darauf gekommen? Nackt und geduscht liege ich unterm weit geöffneten Fenster und rauche. Im Nacken ist mein Haar nass und die Decke kühlt meine warme Haut. Die Nachtluft auch. Ich kann wieder alles fühlen. Ein Stern sitzt über dem Dach des Hinterhauses.

Sich eingesperrte Tiere anzusehen kommt mir mittelalterlich vor. Aber ich will etwas Normales tun, wie alle normalen Mütter.
„Mama, da ist dein Lieblingstier“, sagen die Kinder und zeigen auf den Abu Markub. Er hat dieselbe graublaue Farbe wie mein Parka. Seine viel zu großen Flügel hängen wie ein Mantel über seinem schmalen Rücken. Auf dürren Beinen stakst der Schuhschnabel in seinem Gehege durch das Gras und ich bin ihm ähnlich in meiner engen Jeans. Mit den Händen in den Jackentaschen flattere ich probeweise. Er erkennt mich nicht.
Der scharfe Riesenschnabel passt nicht zum zarten Körper. Irgendwie passt der Schnabel aber zu mir. Ich mag Störche und Reiher. Die stehen alleine irgendwo herum und tun so, als würde ihnen die Wiese gehören oder der See. Ich will auch eine Wiese haben, einen großen See und einen Wald. Ich würde alles, was mir gefällt, in meinen großen Schnabel stecken.

„Das ist mein Ring!“ Meine Mutter hält die Hand auf, als ich nachmittags mit den Kindern zu Kaffee und Kuchen komme. Ich ziehe den Jadering vom Finger. Sie legt ihn achtlos auf den Marmortisch im Flur. Die Haushälterin wirft mir einen tadelnden Blick zu, nimmt den Ring und schaukelt ihren massigen Körper die Treppe rauf.
Auf dem Terrassentisch steht Linzer Torte.
Die Nachbarn kämpfen sich durch das Gebüsch und kommen winkend über die vertrocknete Wiese. Meine Eltern sind nicht die einzigen, die kein Interesse haben an ihrem Garten. Er wäre doppelt so groß, wenn jemand die Sträucher zurückschneiden würde. Die alten Widerstandskämpfer, die in der Nachkriegssiedlung nebeneinandergesetzt wurden, lassen ihre Gärten verwildern und stolpern lieber über das wuchernde Gestrüpp. Die abgestorbenen Sträucher zu beschneiden, damit sie sich nicht ducken müssen, das fällt ihnen nicht ein.
Mein Vater erzählt Kriegsgeschichten, wie immer. Die Juden von nebenan haben Auschwitz überlebt, im Gegensatz zum Rest ihrer Familie. Ich kann meinem Vater nicht zuhören. Ich kenne die Geschichten aus der Résistance, die er nicht aufhören kann zu erzählen. Sie sind allesamt spektakulär. Immer wurde mein Vater beinahe geschnappt, mit Taschen voller Flugblätter, beinahe von der Gestapo durchsucht, beinahe eingesperrt und immer hat ihn, im letzten Moment, ein Zufall gerettet oder ein einflussreicher Freund oder eine gute Lüge.
Ich stöhne. „Deine Heldengeschichten kann doch kein Mensch mehr hören, Papa! Ich hätte gerne stinknormale Eltern gehabt.“ Mein Vater ist für einen ungewohnten Moment still und sieht auf seine Gabel. „Du würdest nicht existieren, wenn du normale Eltern gehabt hättest. Die Kriegsgeschichten sind deshalb außergewöhnlich, weil es die Normalität gewesen ist, dass man vergast wurde. Am Leben geblieben ist man nur aufgrund verschiedener Wunder. Die normalen Eltern sind tot, verstehst du.“
Er reibt seine Stirn.
„Quatsch! Ihr habt überlebt, weil ihr Geld hattet. Deshalb kümmert ihr euch auch nicht um eure Gärten. Ihr hattet eure Diener. Jetzt spielt ihr Kommunisten und könnt nicht mal rasenmähen.“ Alfred steht auf, sammelt das Besteck ein und fuchtelt damit herum. „Ich kann dir dutzende Beispiele nennen von Juden, die ohne Geld überlebt haben, Beispiele von reichen Juden, die ermordet wurden, aber es hat keinen Sinn, mit dir zu diskutieren. Glaub doch, was du willst!“ Er geht ins Haus. Meine Mutter presst die Lippen zusammen und bläst Zigarettenrauch aus der Nase.
Der alte Nachbar schüttelt den Kopf über seinem Kuchenteller. „Wir haben uns im Kampf alle verändert. Nicht zum Guten.“
Ich bringe Teller in die Küche und schiebe sie in das graue Spülwasser zwischen die grauen Spülwasser-Hände der Haushälterin. Die Kinder klimpern auf dem Klavier. Als ich die angelehnte Klotür öffne, schiebt meine Mutter sich Klopapier zwischen die Schenkel. „Bin fertig!“ Ich schließe die Tür. Dass die Klobrille warm sein wird von ihrem Hintern, ekelt mich. „Ich geh hoch.“ Meine Töchter liegen zwischen den Bettecken in der großen grünen Truhe auf dem Treppenabsatz. An solchen langweiligen Nachmittagen habe ich als Kind selbst darin gelegen und durch die geöffneten Fenster die Erwachsenen auf der Terrasse reden gehört.
Das obere Bad meide ich normalerweise. In der dunklen Nische davor habe ich das Gefühl, einer der hässlichen alten Männer könnte sich immer noch dahinter verstecken, mich einfangen und mir seine ekelhafte Alkoholzunge in den Mund stecken. Ich werde wütend, wünschte, ich könnte in die Zeit zurückspringen und ihm mein Knie in die Eier rammen. Ich wünschte, jemand hätte mich gerettet vor den Freunden meiner Eltern, so wie ich meine Töchter retten würde.
Im Bad liegt der Ring im Schmuckkästchen meiner Mutter, obwohl die Haushälterin wissen muss, dass ich ihn wieder nehmen werde. Ihre Ehrlichkeit ist stärker als ihr Verstand.
Wenn das Haus voll war, schloss ich mich im Zimmer der Haushälterin ein, saß auf ihrer Bettkante, öffnete ihren Nähkasten, sah in die Dosen und Schachteln und versuchte zu verstehen, wie die Dinge zu benutzen waren. Die Holzstäbe mit den winzigen Klapphäkchen, die Seidengarne in verplombten Glaszylindern, die verzierten Fingerhüte, die Metallplättchen mit eingeprägten Köpfen und dem hauchzarten Draht. Unsere Strümpfe wurden damit gestopft, unsere Knöpfe angenäht, die eleganten Mäntel meiner Mutter repariert. Mir wird klar, dass ich beide Rollen ausfüllen muss. Ich bin die unabhängige Blondine, die meine Mutter gewesen ist, und gleichzeitig die fürsorgliche Haushälterin, von der sich meine Mutter ersetzen ließ.

Ich stecke meiner großen Tochter auf der Treppe zwei silberne Spangen ins Haar. „Die sind doch von Oma!“, flüstert sie. „Das merkt die nicht“, sage ich.
Meine Mutter bemerkt aber den Jadering an meiner Hand. „Her damit“, sagt sie. Ich ziehe ihn ab. Sie steckt ihn sich an. Er ist zu groß an ihrer knochigen, altersbefleckten Hand. Sie schüttelt ihn irritiert, als würde sie überlegen, ihn doch herzugeben. „Den hat mir dein Vater aus Tibet mitgebracht“, sagt sie entschieden, zieht das Kinn hoch und hebt ihr Sherryglas wie einen Pokal. „Den bekommst du nicht!“
Als Kind hatte ich Respekt vor dem Ring. Er ist wie ihr drittes Auge, das sehen kann, was meine Mutter nicht sieht. Die silbernen Spangen nämlich im Haar meiner Tochter. Die sind mit ihm verwandt und gehören in die Kiste im Bad.
Ich lege mich im Arbeitszimmer auf die Couch und sehe in die winkenden Pappelwipfel. Meine Töchter sollen mich später nicht verachten, wie ich meine Mutter verachte, weil sie keine Lust hatte, ihrem Kind den Po abzuwischen, es zu füttern und vor zudringlichen alten Widerstandskämpfern zu beschützen. Die Kommunisten durften grapschen. Sie waren Helden. Meine Mutter war nur die Tochter eines Nazipfarrers. Meine Töchter sollen mich nicht bemitleiden, wie ich die Haushälterin bemitleide, weil sie kein eigenes Leben hatte.
Ich schlafe ein und bin wieder in dem Gang mit den vielen Türen. Die letzte steht offen und führt in einen hellen Raum. Der Abu Markub steht am Fenster als gläserne Stehlampe. In seinem Schnabel liegt mein Jadering und leuchtet grüngold. Ein grüngelbes Kabel führt vom Ring hinab durch die Kehle des Vogels in den Boden.
Ich schrecke hoch. Die Kinder springen auf die Couch.
Als wir auf dem Heimweg über die Straße gehen, nimmt die Große meine Hand und dreht sie um. „Warum nimmst du Oma immer den Ring weg?“ „Weil ich ihn brauche“, sage ich. Er hält mich am Boden, verkabelt mich mit der Erde, damit ich nicht wegfliege.

Franziska Hauser, geboren 1975 in Berlin Pankow, ist Autorin und Fotografin. Sie hat zwei Kinder und zwei Enkel. Studium Bühnenbild und freie Kunst an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Studium Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer; Stipendium der Stiftung Kulturfonds. 2015 erschien ihr Debütroman „Sommerdreieck“ im Rowohlt Verlag, wofür sie den Debüt-Preis der lit.COLOGNE erhielt und für den ZDF Aspekte-Preis nominiert wurde. Zeitgleich erschien im Kehrer Verlag der Fotobildband „Sieben Jahre Luxus“.
Ihr zweiter Roman „Die Gewitterschwimmerin“ (Eichborn Verlag 2018) wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2018 Gewinnerin des Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerbs. Im selben Jahr Gründung der monatlichen Lesebühne „Des Esels Ohr“ (gemeinsam mit Kirsten Fuchs, Susanne Schirdewahn und Barbara Weitzel). Ihr dritter Roman „Die Glasschwestern“ erschien 2020 (Eichborn Verlag).
Sie schreibt und fotografiert für Das Magazin, Berliner Zeitung, FAZ, taz, Die Welt u.a.
Der vierte Roman „Keine von ihnen“ erschien im April 2022. Ebenfalls bei Eichborn.
Franziska Hauser

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Franziska Hauser.

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