Die frühesten Bilder

Gastbeiträge

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Dies Theorem, daß die Kindheit ein Urkontinent sei. Wir versuchen uns zu erinnern an das früheste Bild, das wir haben. Der Freund sieht sich auf der nächtlichen Kinderstation in einem kalten Gitterbett. Seine Frau liegt im Stubenwagen, und eine Maus läuft ihr über die Stirn. Du richtest dich am Beistelltischchen auf und stößt dabei die blaue Vase aus ihrer Umlaufbahn. Ich habe das von einer Nonnenhaube eingerahmte Gesicht vor Augen, wußte nicht, was eine Nonne war, aber ihr hat mich meine Mutter übergeben und ging fort. Drei Jahre alt muß ich gewesen sein und sitze am Rand des Sandkastens an meinem ersten Kindergartentag, rege mich nicht von diesem Fleck und stiere den ganzen Nachmittag lang auf das Schäufelchen in meiner Hand, das etwas ist, an dem ich mich festhalte.

Aus:
Walle Sayer: „Das Zusammenfalten der Zeit“, erschienen im September 2022, Kröner Edition Klöpfer.

Walle (Walter-Hermann) Sayer, 1960 geboren. Kindheit und Jugend im Schatten des 1478 erbauten und 60 Meter hohen Bierlinger Kirchturmes, der mit seiner Höhe „ein Veto ragt ins amtierende Licht“. Lebt und schreibt in Horb am Neckar. Veröffentlicht seit 1984 Gedichte und Prosa. Verschiedene Auszeichnungen, zuletzt: Basler Lyrikpreis 2017 sowie Gerlinger Lyrikpreis 2018; 2020/2021 erhielt er ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds.
Zuletzt erschienen: „Das Zusammenfalten der Zeit“, Prosagedichte und Erzählminiaturen, Kröner Edition Klöpfer 2022, „Nichts, nur“, ein Auswahlband, Kröner Edition Klöpfer 2021, „Mitbringsel“, Gedichte, Klöpfer 2019 und „Was in die Streichholzschachtel paßte“, Feinarbeiten, Klöpfer&Meyer 2016.
Walle Sayer

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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