Eine haarige Geschichte

Aus dem Alltag

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‚Die Frisur wie immer?‘, fragt sie und ich verspüre augenblicklich einen Hauch von Schuldbewusstsein, weil wir auch dieses Mal auf haarige Experimente verzichten werden. Sanft hält sie meinen Kopf zwischen ihren beiden Händen, wendet ihn zuerst ganz leicht nach links, bevor er in die Gegenrichtung muss, mustert ihn wie ein Künstler sein noch unfertiges Werk. ‚Also keine Dreadlocks heute?‘, meint sie und lächelt dabei so verschmitzt, dass ich mir das Bild genüsslich vor Augen führe.
Doch die Wahrheit ist ebenso schlicht wie unleugbar. Ein Rastafari wird aus mir in diesem Leben keiner mehr.

Seit beinahe fünfzehn Jahren hält sie meine Haare kurz, lässt mir formidable Kopfmassagen angedeihen und verfolgt interessiert, aber machtlos das stete Ergrauen meines Haupthaars. Nun gut, gar so machtlos wäre sie nicht, ließe ich sie gewähren mit all den Mitteln, die die Färbekunst dem Coiffeur bereitstellt. Jedoch, das Grau der Jahre ist ein Vorrecht, das es stolz zu tragen gilt. Um mit blanker Verwunderung auf jene jungen Frauen zu schauen, die ihr Haar wohl aus modischen Motiven in ein Grau tauchen, das sie in drei Dekaden bitterlich verwünschen werden.

Ihr Name ist Sandra. Aufgewachsen im hohen Norden Österreichs, hart an der tschechischen Grenze, wo die Äcker zahlreich sind und das Land sich weit dem Horizont entgegenstreckt. Vom stürmischen Wind der Jugend nach Wien geweht, wo sie Profession und Lehrherrn fand. Und einen neuen Namen. Denn ihrer war in dreister Weise bereits belegt von einer Kollegin und zwei Sandras den intellektuellen Fähigkeiten potentieller Kundschaft, so scheint’s, nicht zumutbar. So lernte ich sie als Alex kennen und es hat Jahre gedauert, bis ihr tatsächlicher Name ausgeapert ist aus ihr wie aus einem langsam zurückweichenden Gletscher. Sandra Nummer eins war da schon lange Geschichte.

Ihrem ehemaligen Lehrherrn blieb sie treu, wurde Teil einer verschworenen Einheit, fand Spaß an der Arbeit und den Gesprächen mit einer mitunter launigen Kundschaft. Alles lief seinen gewohnten Gang routinierter Selbstorganisation und gelebter Effizienz. Bis der Chef dem neoliberalen Glauben der Zeit verfiel, unselbstständig Erwerbstätige seien bloß ein Kostenfaktor und nur ein Unternehmer wahrhaft produktiv. Und er seine Mitarbeiter konsequent zum Erwerb des Meisterbriefs drängte.
Was auch vorbildlich funktioniert hat.

Doch was er nicht bedachte: ging doch mitsamt all den unschicklichen Personalkosten auch das Weisungsrecht des Vorgesetzten, der nun doch keiner mehr war, verloren. Es war ein Spiel, das nicht gut enden konnte, denn wer begibt sich schon in die unsicheren Fahrwasser der Selbstständigkeit, nur um sich hernach in der gewohnten Despotie wiederzufinden?

‚Gut so?‘, fragt sie und hält einen Spiegel hinter meinem Kopf hoch, mir freien Blick auf mein ergrautes Haupt gewährend. Von der riesigen Fensterfront zum Stillfriedplatz hin dringt zaghaft das letzte Licht des Tages, bevor es langsam hinter den umliegenden Häuserfronten verdämmert. Ich sitze in einem Friseursalon, der unverschämt geräumig ist, und mir kommt vor, das ansonsten so verschlossene Lehrmädchen hat sogar ein wenig gelächelt, als es eben sein Tagewerk beschlossen hat. ‚Selbstverständlich‘, antworte ich und rücke meinen müden Körper im Sessel zurecht, dass es nur so knackt in der Lendenwirbelsäule. ‚Kann ja nicht anders sein, wenn mich die Chefin selbst schneidet.‘
Dann greift sie, die wieder stolz den Namen Sandra trägt, nach dem Öl und stellt die höchst rhetorische Frage: ‚Noch Zeit für eine Kopfmassage?‘

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