
Ich bin kein Kind mehr
- April 22, 2025
- by
- J. Monika Walther
Ich war ein Kind
ohne Vergangenheit
mit einer Mutter
ohne Vergangenheit
mit einer Familie
ohne Vergangenheit.
Alle vom Himmel gefallen.
Die Männer mit Hut, Anzug,
Mantel und Aktentasche,
mehr Besitz war nicht.
Die Frauen mit Hut, Kostüm,
Mantel, kleinem Koffer, Handtasche,
mehr war nicht geblieben.
Die Kinder das Kind warm verpackt
Mütze, Pullover, Hosen,
Jacke und Rucksack,
mehr gab es nicht.
Alle vom Himmel gefallen,
alle leise schweigend lächelnd.
Ich war kein Kind
und war immer noch ein Kind
ohne Vergangenheit.
Wo kommt ihr her?
Wo wart ihr?
Niemand will die Antwort hören.
Ihr wisst nicht was wir
Ihr wisst nicht wie die Bomben
Ihr wisst nicht wie die Russen
die Amerikaner der Phosphor
Ihr wart verschwunden.
Kann nicht so schlimm gewesen
Ihr lebt ja noch nicht so schlimm
gewesen sein aber wir wir die Bomben
Ich war kein Kind mehr
und blieb ein Kind ohne Geschichte
war der Krieg nicht vorbei
war die Nacht nicht vorbei
sah niemand die Toten
waren die Seelen verschwunden
niemand hatte gesucht gewartet
niemand das Leben zurückgegeben
niemand war Dieb Mörder niemand
niemand sagte ein Wort zwei Wörter
niemand war irgendwo gewesen
Ich war kein Kind mehr
und blieb ein Kind ohne Geschichte
mitten im Spalier der großen Menschen
Die einen geflüchtet gerannt geflohen
über alle Grenzen nach Burma Macau
über den Kanal den Atlantik die Ostsee
über das Mittelmeer und immer weiter
erschöpft vergessen die Heimat verloren
braune Diktatur rote Diktatur
Die anderen glaubten an Volk und Führer
an Fahnen und Aufmärsche an Protz und Geschrei
Die anderen wollten über alle herrschen
morden töten rauben besitzen auslachen.
Ein singendes jubelndes Volk der Täter
Ein Volk versunken in kollektiver Unschuld.
Wir sind die Opfer. Wir. Ihr wisst nicht. Nichts.
Der Krieg verloren das Land in Trümmern
Millionen Tote das halbe Reich besetzt
Die Sinne verwirrt Doppelzungen in den Mündern
Niemand war schuld wir hörten nichts
Wir sahen nichts wir wussten nichts Heil.
Sie lernten lügen sie lernten schweigen.
Sie hatten nichts gesehen nichts gehört,
sie waren nirgends gewesen.
Die einen wie die anderen.
Ich war kein Kind mehr
blieb ein Kind ohne Geschichte
bis ich die Aktentasche öffnete
die Handtasche und den Koffer
meinen Rucksack.
Ich war nicht vom Himmel gefallen
Ich hatte eine Familie
mit einer Geschichte
quer durch die Jahrhunderte.
Alle waren irgendwo gewesen
Alle hatten Erinnerungen und Wissen.
Dem deutschen Land den Preußen gedient.
Alle hatten geliebt und am Schabbat
Brot gebrochen und Kerzen gezündet.
Ich muss das Sprechen
Ich muss das Schreiben lernen.
Ich bin kein Kind mehr.
Noch unveröffentlicht.
J. Monika Walther stammt aus einer jüdischen-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. „Fluchtlinien“ (2023), „Nachtzüge. Gedichte und gefundene Zettel“ (2021) und „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (2020).
Zuletzt erschienen: „Kommissar Simonsberg ermittelt am Rand der Welt“ (2024).
J. Monika Walther
Lesebuch Jay Monika Walther
Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.