Im Imbiss

Gastbeiträge

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Gülbani und ich, wir betreten einen Imbiss, um Kebab in Lawasch zu essen. Ein junger Mann führt den kleinen Laden. Wir müssen nicht lange warten und genießen das Essen dann still, jeder für sich. Wie ich bemerke, sehen Gülbanis Augen, die sonst groß und wach wirken, auf einmal so müde aus: „Bist du müde?“, frage ich also. Aber sofort ist sie wieder wach: „Nein, nur meine Augen waren spazieren“, sagt sie und lacht.

Während wir schon essen, lausche ich noch immer dem schönen Klang dieser Wendung nach: Augen, die spazieren gehen … Der junge Mann vom Imbiss fragt, ob es uns schmeckt. Wir kauen und nicken zugleich. Ich weiß nicht, wo Gülbani gedanklich gerade ist; ich aber bin immer noch bei den Wortwendungen und erinnere mich gerade auch an das, was mir Ashurey erzählt hat: „Wenn du sagst: Meine Augen trinken kein Wasser von ihm, dann bedeutet das: Er gefällt mir nicht. Und Vorhänge vor den Augen zu haben beziehungsweise zu hängen, bedeutet, dass ich eine Nachricht verschleiere, weil ich sie nicht geben möchte.“

Nach dem Essen nimmt sich Gülbani eine der Papierservietten und malt in die Mitte einen schwarzen Punkt. Kaum ist sie fertig damit, schaut sie mich mit ihren großen Augen an: „Als ich noch in der Schule war, hat unser Lehrer ein weißes Blatt Papier genommen und dort in die Mitte genauso einen schwarzen Punkt gemalt. Dann hat er uns gefragt, was wir sehen. Alle sagten: Wir sehen einen schwarzen Punkt. Ich aber sagte: Und ich sehe hier einen ehrlichen, einen guten Menschen. Und dieser Punkt symbolisiert den einzigen Fehler, den er trotzdem hat. Das habe ich zu meinem Lehrer gesagt.“

Aus:
Constanze John: 40 Tage Aserbaidschan. Unterwegs zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer, DuMont Reise, 2020

Constanze John, 1959 geboren. Leipzigerin mit Leib und Seele. Reiseschriftstellerin, die sich auch der Prosa und Lyrik verschrieben hat. Arbeitet für Hörfunk und Bühne und ganz besonders gern mit Kindern und Jugendlichen.
Zuletzt erschienen: „40 Tage Aserbaidschan“, Verlag DuMont Reise, 2020. Nach „40 Tage Armenien“ und „40 Tage Georgien“ das dritte Buch, das sich dem Kaukasus widmet, der groß und vielfältig ist. Und voller Geschichten steckt.
Constanze John
40 Tage Aserbaidschan bei DuMont Reise

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Constanze John.

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