Litfaßsäule

Gastbeiträge

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Mit schwerem Kopf war sie aufgestanden. Die Yoga-Übung lässt sie sein. Zu spät. Schlurft in die Küche.
Bringt die Augen kaum auf.
Greift blindlings nach dem richtigen Tee. Demjenigen, der sie wach machen wird. Wasser aufsetzen. Weiter ins Bad. Verquollene Augen. Der Blick, der Mund, fern das Glück, Wasser muss fürs Erste reichen. Schrank auf, die japanischen Schönheitspillen zwischen die geöffneten Lippen schieben, sie garantieren Schönheit von innen. Nachher noch eine Maske auftragen, damit niemand heute Abend mehr etwas sieht. Heute Abend. Sie wendet den Blick ab. Räuspert sich.
Klingt nicht gut.

Wusste sie schon vorher. Hatte ihre Gesangslehrerin immer gesagt, nur eine, und die würde sich rächen. Dann hilft nichts mehr. Fast nichts.
Unter Sängerinnen werden die Adressen von Hals-Nasen-Ohren-Ärzten wie Talismane gehütet. Doch eine Zigarette nach einem Glas Wein, dann noch eine, selbst der beste Arzt kann da nichts mehr ausrichten.
Unter die Dusche.
Kaltes Wasser über den Körper fließen lassen, eiskaltes, bis sie ihn nicht mehr spürt. Den Körper. Das wird sie von nun an jeden Tag tun. Sich nicht mehr spüren. Sie nickt.
Zurück in der Küche klappt sie den Brotkasten auf. Gähnender Schlund.
Sie ekelt sich fast vor ihrem eigenen Widerwillen, streift übellaunig die Kleider vom Vortag über, muss aber hinaus, muss Croissants holen.
Ein eisiger Wind streicht ihr über den Nacken, zwischen Kragen und Haaransatz, sie zuckt zusammen, die Schultern verkrampfen sich.
Nieselregen.
Sie reckt das Gesicht in den trüben Himmel, streckt die Zunge heraus, weit heraus, ihre Löwenübung. Hoffentlich sieht sie niemand.
Um diese Zeit sind ohnehin nur die Hundespaziergänger unterwegs.
Und eine junge Frau, die früh arbeiten muss. Für andere.
Für sie, die jetzt Croissants haben will. Und die ihr freundlich zulächelt, als sie ihr die Münzen einzeln in die Handfläche zählt.
Ein Mädchen noch. Was bedeutet ihr ein Leben, eine Liebe?
An der Ecke erst hebt sie den Kopf. Sie weiß, was sie erblicken wird. Dort hängt ihr Name unter seinem an der Litfaßsäule.

Aus:
Alice Grünfelder, Mine Dal: schön & glücklich, erschienen im September 2023, Songdog-Verlag.

Alice Grünfelder, Buchhändlerlehre und Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, lange Jahre Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, unterrichtet seit 2010 Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen.
Im Mai 2023 erschien ihr Roman Jahrhundertsommer, im Herbst der Text-Foto-Band schön & glücklich (zusammen mit Mine Dal).
Alice Grünfelder

Mine Dal, türkisch-schweizerische Fotografin, geb. in Istanbul, lebt seit 1999 bei Zürich, studierte in Istanbul Germanistik und Kunstgeschichte. Ihr Fotoband Everybody’s Atatürk erschien 2020 bei Edition Patrick Frey. Für diese Veröffentlichung wurde sie in der Türkei von der Fotografie Föderation TFSF zur Fotografin des Jahres gewählt. 2021 wurde sie mit diesem Fotoband für den Arles Book Award nominiert.
Im Herbst 2023 erschien der Text-Foto-Band schön & glücklich (zusammen mit Alice Grünfelder).
Mine Dal

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Alice Grünfelder, die Bildrechte bei Mine Dal.

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