Mike, Marketing Manager 2022

Gastbeiträge

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„Seit Büro Office heißt, verstehe ich die Jugend nicht mehr“, hat Sokrates gesagt oder Luther, in Sanssouci. Sokrates, der auch sagte, Philosophieren heißt Sterben lernen, hatte eine pragmatische Einstellung zur Arbeit, man hielt sich logisch Sklaven. Der alte Moralist. Noch in seiner weitläufigen Todeszelle ließ er sich bekanntlich seine im Gespräch formulierten Gedanken von den Lippen abschreiben. Nur das Wort zählte. Beide Hände frei. Luther, der gern laut rülpste und furzte, sagte, verdiene deine Erbsen und Linsen im Schweiße deines Angesichts, deine Scholle sollst du pflügen mit deiner eigenen Hände Kraft. Das sagte er, weil sein Erzfeind Tetzel, ein kleiner Dicker mit Glatze und einem Büschel Resthaar an der Stelle der Stirn, wo bei Babys die Fontanelle ist, immer munter den Klingelbeutel hinhielt. Wenn ihr einzahlt, könnt ihr später einmal mit den Engeln im Himmel Ambrosia schlürfen, aus dem Becher, aus dem Jesus seinen Wein beim letzten Abendmahl trank, damals am Rosenthaler Platz.

Seit Mike hier arbeitet, ist die Stimmung im Office anders. Mike kommt aus Offenbach oder Aichach oder Eisenhüttenstadt, das ging irgendwie unter oder er hat es nicht gesagt. Mike kommt morgens immer zu spät. In der einen Hand trägt er einen Pappbecher Kaffee, den er in der U-Bahn kauft. Jeden Morgen. Mikes Krawatte ist ein Statement an die Yuppies der 90er-Jahre als in Frankfurt, New York, London es tatsächlich Wirkung zeigte, wenn einer sagte, er arbeitet an der Börse. Und im Büro Krawatte getragen wurde. Das Gespür für das Besondere sieht man ihm durch den Mehrtagebart an. Mike ist unser neuer Marketing Manager, seine Augen sind oft glasig. Vorher war er Möbelpacker oder Maulwurf. Weiß gar nicht, ob es solche Berufe heute noch gibt, sah aber interessant aus, auf seinem CV. „Ich mach mir nichts aus Homeoffice“, sagt Mike, „das hat nichts mit New Work zu tun.“ Im Meeting sieht Mike aus, als hätte er als Jugendlicher zu viel gekifft. Dieser halbblöde Ausdruck um den Mund rum. Neulich schienen ein paar Fliegen um ihn zu schwirren. In der Loungeecke beim Spielen kroch auch etwas aus seinem Hemdkragen. Mike verdient mehr als ich. Der Hurensohn.

Luther übersetzte damals die Worte Gottes, er ging häufig spazieren. Abends trank er gern vorm Eisenacher Späti mit Bach Berliner Luft und erfand das Wort Lippe. Währenddessen trommelte Bach tonlos bei halb geschlossenen Augen mit den Knöcheln einen Generalbass auf die Bierbank. Als Luther und Bach ein paar BMW-Ingenieure mit Opel-Monteuren über Fords Fließbandproduktion und was das alles mit Robotisierung zu tun hätte in Streit geraten sahen, wurde ihnen klar – sie blickten sich an –, dass sich nie etwas ändern würde, und sehnten sich in ihr Office zurück. Als sie gingen, saß Sokrates im Weinbergspark etwas abseits auf einem Stein, ein Limobier vor sich im Gras, und sah auf seine Hände.

Fabian Olbrich, 1985 geboren in der DDR
Mitarbeiter bei Bartels & Bleil. Verlag für ästhetischen Widerstand
Im Herbst 2022 erscheint sein Erzählband „Glühende Landschaften“
Bartels & Bleil

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Fabian Olbrich.

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