Notwendigkeit

Notwendigkeit

Mutter log. Sie tat es nicht aus böser Absicht oder, wie ich lange annahm, aus Scham. Sie log, weil sie sich selbst belügen wollte; weil sie die Wahrheit nicht ertrug. Vierzig Jahre wollte sie mich glauben lassen, dass der Säugling, dessen Bild ich [ich war acht] im Album entdeckte, ein Cousin war, glücklos in die Welt gekommen, bald aus ihr geschieden. Ich weiß noch, dass unter dem Foto, ganz gegen Mutters Gewohnheit, kein Datum stand, ja, nicht einmal ein Name. Ich fragte. Joseph, flüsterte Mutter, sprach die Lüge aus, fiel dann in ein dunkles Schweigen, und die Art, wie sie schwieg, ließ mich erst aufhorchen, dann verstummen. Ich fragte nicht weiter; meine Welt war einfach und klein und die Lügen, die sich in ihr fanden, waren es auch. Jahre vergingen, bis ich [ich war auf der Suche nach meinem alten Impfpass] auf eine Geburtsurkunde stieß. Den Mädchennamen meiner Mutter sah ich sofort, der Name des Vaters war nicht vermerkt. Hinter der Geburtsurkunde, in derselben Klarsichthülle: ein Totenschein. Joseph lebte vier Monate und elf Tage. Wir durften einander nicht Brüder sein. Mit meiner Mutter sprach ich nie über ihn. Ich wusste, dass ihre Lüge Notwendigkeit war.

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