Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus

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Die Anfänge meiner Auseinandersetzung mit der Poetik bleiben dem Deutschunterricht geschuldet, denn in Schulbüchern fand ich reichlich Werkauszüge vor, die mich fortan beschäftigen sollten. Es waren Autor*innen wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann oder Ernst Jandl, die meine Vorliebe für die Kenntnis um das Wesen der Poesie anfachten und die mit ihren Kompositionen völlig neue und mir damals auch vollkommen fremde, poetische Paradigmen schufen: „ich kann die hand nicht heben hoch zum gruss. schau her. (…) der stiefelriese tanzt auf meinem bauch. hilf mir. der stiefelriese tanzt auf meinem bauch. ich fresse feuer, und ich bettel auch.“ (Ernst Jandl: zertretener mann blues).

Ohne es zu ahnen, wie wichtig mir als Autor später die Rhythmik, der Duktus, poetische Stilmittel und formale Zugänge werden würden, spürte ich doch damals schon den Sinn dieser Komposition, erkannte die Lust am Arrangement und die Anbindung an die Musik. Die litaneihafte Eindringlichkeit, die Schaffung eines nahezu hypnotischen Refrains, die Zusammenführung eines Liedes mit einer Anklageschrift, es führte mir vor Augen, dass Poesie weitaus mehr leisten muss, als ich es mir gemeinhin gedacht hatte. Worte wie „Stiefelriese“ und „Knochensack“ faszinierten mich zudem, denn mit vierzehn Jahren war ich mir dessen nicht bewusst, dass Dichter ihre eigenen Begrifflichkeiten schöpften, dass sie die Sprache gestalteten, wie sie es wollten.

Diese (und noch viele andere) Dichter*innen und ihre Handhabe der Sprache verdeutlichten mir, dass Poesie eine weit über den Gebrauch eines Narrativs hinausgehende Funktion erfüllt: Sie ist ein Rätsel, ein Zauberspruch, eine emotionale Fokussierung, sie ist ein Zeichen, ein Mahnmal, ein Schild, eine Waffe, sie ist vor allem jedoch auch Lust und eine niemals zu begrenzende Spielwiese des eigenen schöpferischen Aktes.

Paul Celans „Schwarze Milch der Frühe“ ließ mich wohl dann endgültig den Entschluss fassen, diesen Poet*innen zu folgen, denn die Art und Weise, wie dieser seine Verse gestaltet, sie ein- und aussetzt, diese darin wuchernde Dringlichkeit und Suggestivkraft, es waren zugleich Initiationsmuster, die mich und die Handhabe der eigenen Sprache für immer veränderten. Ich sah diese (und noch viele andere) Poet*innen plötzlich als Botschafter*innen eines sich mir ganz langsam erschließenden, durch und durch poetologischen Sprachuniversums, dessen Möglichkeiten und Funktionsweisen ich allmählich zu begreifen begann.

„Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus“, schreibt Paul Celan folgerichtig und jener Akt des Sich-Aussetzens schien mir seit jeher ein wunderbares Credo zu sein, welches das Leben und die Poetik in einem Punkt zusammenführen. Dass jedoch die Fokussierung auf eine (poetische) Aufgabe keine zwanghafte Vereinnahmung meint, dessen wurde ich mir erst viel später bewusst: Die Literatur an sich muss und darf eine Geste ins Nichts bleiben, in der Hoffnung, dass jemand die ausgestreckte Hand ergreift.

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (CSSR) geboren, er lebt heute als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studium der Bohemistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminare an den Universitäten Bamberg, Wien, München, Prag, Olmütz, Ostrau, Brünn, Braunschweig, Würzburg, New York u.a.

Preise: Wissenschaftsbuch des Jahres, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur, Hohenemser Literaturpreis, Literaturpreis Wartholz, Adelbert-von-Chamisso Preis u.a.
Publikationen zuletzt: Fremdes Licht. Luchterhand, München 2020; Balthasar Blutberg. Luftschacht, Wien 2020; zu brechen bleibt die See. Czernin Verlag, Wien 2021; Faszination Krake. Leykam-Verlag, Wien 2021; Piepmatz macht Wald aus euch. Leykam-Verlag, Wien 2022.
Publikationen 2023:
Phantom. Roman, Luchterhand, München; Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit. Gedichte, Limbus, Innsbruck; Faszination Qualle. Leykam, Wien.
Michael Stavarič
Rezension zu „Fremdes Licht“

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Michael Stavarič, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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