Schattensprung

Aus dem Alltag

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Komm, sagt Elsa. Sie sitzt in der Astgabel des Nussbaums und winkt mir zu. Ich weiß nicht recht. Ob ich ihr sagen soll, dass ich Höhenangst habe? Ich überlege kurz, traue mich aber nicht. Also doch klettern. So hoch ist es nicht, höchstens drei Meter. Dreieinhalb vielleicht. Komm schon, Manuel, sagt Elsa und lächelt mich an. Auf der Astgabel kann man gut sitzen. Ich könnte hier unten auch gut sitzen, denke ich mir. Aber ich weiß, dass man manchmal Dinge tun soll, vor denen man Angst hat. Zieh die Schuhe aus, ruft sie. Und die Socken. Ich mache, was sie sagt, fasse mit den Händen an den Stamm und schaue nach oben. Die Rinde ist hart und rissig. Ich hole tief Luft, greife nach einem Ast, suche mit der linken Hand Halt am Stamm und setze einen Fuß auf den Baum. Das nächste, das ich weiß, ist, dass ich neben Elsa in der Astgabel sitze. Hast du gut gemacht, sagt Elsa und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Weiß nicht, sage ich und schlucke. Du hast Höhenangst, oder? fragt sie. Ich nicke stumm und schaue in die Tiefe, was keine gute Idee ist. Schau nicht runter, sagt Elsa und ich drehe meinen Kopf, sehe sie lächeln. Du bist mutig, sagt sie. Gar nicht, meine ich. Du bist viel mutiger als ich. Sie lacht. Wenn du wüsstest, sagt sie. Ich denke an die Narben an ihren Unterarmen, sage aber nichts. Weißt du, wann du wieder zu deiner Mutter darfst? frage ich und bereue die Frage sofort. Elsa schüttelt den Kopf. Keine Ahnung, sagt sie und wippt mit den Beinen. Ich hoffe nur, sie schafft den Entzug. Ich muss an meine Mutter denken. Sie hat ihn nicht geschafft. Elsa weiß das, legt ihre Hand auf meine. Weißt du, Manuel, da ist noch eine wichtige Frage, sagt sie. Ich runzle die Stirn, sehe sie an, frage: welche? Wie bekommen wir dich vom Baum runter? sagt sie und strahlt mich an, lacht so wunderbar, dass ich nicht anders kann, als wieder mutig zu sein.

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