Spiel mir das Lied vom Tod

Aus dem Alltag

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Schnee fegt in winzigen Kristallen durch die Luft, während langsam ein Tag verdämmert, der reich war an düsterer Winterstimmung und arm an freudvollen Stunden. Kleine Fontänen schmutzig-grauen Matschs begleiten auf meinem Heimweg jeden meiner Schritte, spritzen auf Schuhe und Hose, legen sich erbarmungslos über die ganze Welt. Eine diffuse Unruhe hat mich erfasst und ich fühle mich kraftlos wie ein dürrer Ast, verloren wie ein Ruderboot im offenen Meer.
Ich bin müde.

‚Ist dir auch so heiß?‘, frage ich Doris und blicke sie aus glasigen Augen an. ‚Noch nicht‘, meint sie, ‚aber wir werden ja sehen, was da noch draus wird.‘ Dann verschwindet sie kurz im Bad, kommt gleich darauf wieder zurück, haucht mir einen Kuss und streckt mir einen Gegenstand entgegen.
Missmutig stehe ich im Vorhaus, noch immer in Mantel und Stiefel, unfähig zu schnellen Bewegungen und klaren Gedanken.
Und habe ein Fieberthermometer in der Hand.

Siebenunddreißig-acht. Ich will jetzt nicht krank werden. Das ist bloß ein harmloser Infekt, ich leg mich kurz auf die Couch, ja, der Kopf tut schon ein bisschen weh, kannst du mir bitte einen Tee machen?
Mir ist heiß. Und plötzlich ist mir kalt. Ich bin kraftlos, müde und furchtbar unleidig. Ich dämmere weg.
Als ich wieder wach werde, schauen wir ‚Bonanza‘ und es bricht mir fast das Herz, als Little Joe kurz vor der Hochzeit seine große Liebe verliert. Dass mir die Handlung reichlich komplex vorkommt und übermäßig nahe geht, führe ich auf meine ungesunde Körpertemperatur zurück. Ich beschließe, zu Bett zu gehen und Doris alleine mit den Cartwrights auf der Ponderosa zurückzulassen.

Unter der Dusche überfällt mich ein Schüttelfrost mit derartiger Brutalität und Unverfrorenheit, als wäre er Butch Cassidy mit seinem wilden Haufen und ich eine gottverdammte Bank im Mittleren Westen. Ich greife zum Fieberthermometer, messe achtunddreißig-fünf und wanke mutlos ins Bett.

Die Nacht scheint kein Ende zu finden. Fieberschübe beuteln mich und Albträume suchen mich heim, so plastisch und real wie manchmal sogar das Leben selbst nicht. Als ich das erste Mal aufwache, ist mein Pyjama schweißnass und mein Herz rast. Ich trinke einen Schluck Tee. Ich. Bin. Müde. Und kann doch nicht schlafen.
Mir ist heiß. Mir ist kalt.

Am Morgen liegt meine Körpertemperatur bei neununddreißig-vier. Ich verabschiede mich von der Vorstellung eines rasch vorüberziehenden Infekts und schleppe mich zum Arzt und wieder zurück. Auf die Couch. Ins Bett. Mein Kopf scheint zu bersten, die Gelenke fühlen sich an, als hätte man mich des Nachts in Einzelteile zerlegt und unsachgemäß wieder zusammengesetzt und mein Rücken tut weh. Ich habe keinen Appetit und zwinge mich zum Essen. Trinke Unmengen warmen Tees und taumle unzählige Male auf die Toilette.
Die Temperatur sinkt vier Tage lang nicht unter achtunddreißig-acht.
Ich schwitze. Ich friere. Ich. Will. Schlafen.

In der vierten Fiebernacht schleppe ich mich um drei Uhr morgens in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Ich taste nach dem Schalter, mache das Licht an und staune. Das Licht brennt, meine Augen sind geöffnet und ich sehe … nichts. Nur absolute Finsternis, schemenlos und so dunkel wie das All.
So fühlt es sich also an, blind zu sein. Dann lasse ich mich zu Boden sinken.

Nach wenigen Sekunden beginnt es an den Rändern meines Gesichtsfelds zu flimmern und das Licht kehrt zu mir zurück, als beträte es ein vertrautes Heim. Langsam stehe ich auf, trinke ein großes Glas Wasser und gehe zu Bett. Und zum ersten Mal seit Tagen falle ich in einen erholsamen, traumlosen Schlaf.

Es ist schon später Vormittag, als ich erwache, das Tageslicht fällt friedvoll durch die halb geöffneten Vorhänge und meine Temperatur liegt bei vielversprechenden siebenunddreißig-vier. Ich gehe ins Wohnzimmer, wo Doris, eine Tasse heißen Kaffees vor sich, gerade ihre Lektüre der Wochenendzeitung beendet. ‚Und? Wieder unter den Lebenden?‘, fragt sie und lächelt dabei unverschämt gesund. ‚Geht so‘, antworte ich. ‚Aber was mich immer noch beschäftigt: woran ist Little Joes Braut denn eigentlich gestorben?‘

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