Tutku Hotel, Izmir

Gastbeiträge

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Er liegt nackt auf dem Laken. Er schwitzt. Unter sich spürt er den zerwühlten Stoff, jede einzelne Falte. Es riecht nach Wäschestärke und alten Polstermöbeln. Das schmale Fenster ist gekippt. Aber alles, was hereindringt, ist ein bisschen fahles Licht der nächtlichen Stadt. Und die Schwaden einer Zigarette, mit der wohl irgendwer in einem der unteren Stockwerke am Fenster sitzt.

Die Enge der Dachschrägen senkt sich auf ihn und er denkt an Erdbeben. Vor gerade mal dreißig Jahren gab es eines, hier in Izmir. Achtundfünfzig Menschen, hat er gelesen, sind dabei gestorben. Seismische Ruhe kann ein Vorbote sein. Die Tiere verhalten sich dann auffällig. Die gewundene Treppe im engen Treppenhaus kämen sie niemals rechtzeitig hinab.

Sein Blick geht zur Zimmertür hin. Der schmale Sehschlitz ist von innen mit einem rauen Brett zugenagelt. Alle Türen in diesem Hotel sehen so aus.

Vorhin, beim Ausfüllen des Anmeldeformulars, hat der einarmige Hotelier in perfektem Deutsch über den Gemüsehändler auf der Straße geschimpft. Er beschuldigt ihn, sein fauliges Obst in den Mülltonnen des Hotels zu entsorgen. Denselben Händler haben sie zuvor nach dem Weg gefragt. Er wies ihnen die Richtung, mit kümmernd dreinblickenden Augen, und sagte, das Hotel befinde sich in jener Gasse, in die früher nur die Matrosen gegangen seien.

Plötzlich hat er ihn wieder in der Nase, den aufdringlichen Geruch von frischem Koriander, den der Gemüsehändler in dicke Büschel geschnürt hat. Eine Erinnerung lag in diesem Duft, vorhin schon. Jetzt kann er sie auf einmal fassen: Es sind die Wanzen, mit denen er als Kind auf der Veranda seines Großvaters gespielt hat, im Sommer. Er hat sie von den Bäumen gesammelt und in ein Glas getan. Auf den warmen Steinen hat er sie Wettrennen laufen lassen. Das Glas hat er mit grünem Gras und blauer Wegwarte ausgelegt, damit die Wanzen es gut hatten.

Sie liegt neben ihm. Er lauscht auf ihren Atem, sanft und eigensinnig. Er möchte sie gern riechen, aber in der dicken Luft sind nur die letzten Reste des Zigarettenrauchs, der vorhin durchs Fenster gekommen ist. Er spürt deutlich, dass sie sich fremder werden, mit jeder Etappe ihrer Reise. Und er fragt sich, ob das Leben besser wäre, wenn man es so leben würde, dass man im Moment der ersten Begegnung bereits damit beginnt, Abschied zu nehmen.

Eine einzelne Stimme hebt an zu singen, durch einen knisternden Lautsprecher hindurch. Die Muezzins, erinnert er sich, rufen zum ersten Mal, wenn sich in der anbrechenden Morgendämmerung mit bloßem Auge ein schwarzer von einem weißen Bindfaden unterscheiden lässt. Nach und nach stimmen weitere mit ein. Von den vielen Minaretten der Stadt drängt ihr Gesang ins Zimmer und füllt es an.

Nirgendwo singen die Muezzins so schön wie in Izmir.

Moritz Hildt, geboren 1985 in Süddeutschland, ist freier Autor und promovierter Philosoph. Sein Debütroman Nach der Parade erschien 2019 bei duotincta (Berlin) und stand auf der Short List für den Thaddäus-Troll-Preis. 2020 folgte der Roman Alles, ebenfalls bei duotincta. Weitere Infos unter
Moritz Hildt

Mine Dal, türkisch-schweizerische Fotografin, geb. in Istanbul, lebt seit 1999 bei Zürich, studierte in Istanbul Germanistik und Kunstgeschichte. Ihr Fotoband Everybody’s Atatürk erschien 2020 bei Edition Patrick Frey. Für diese Veröffentlichung wurde sie in der Türkei von der Fotografie Föderation TFSF zur Fotografin des Jahres gewählt. 2021 wurde sie mit diesem Fotoband für den Arles Book Award nominiert.
Mine Dal

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Moritz Hildt, die Bildrechte bei Mine Dal.

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