Wenn die Dinge ihr Antlitz zeigen

Gastbeiträge

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Bemerken wir das am Laternenpfahl angekettete Fahrrad, dem seit gestern Nacht das Vorderrad fehlt. Durchschaut uns die Maserung der Tischplatte, nachdem der Schreinerfreund darüber streicht und von seinem Lieblingsholz spricht, bei welcher Mondphase es eingeschlagen werden mußte, wie lange es zu lagern hatte. Erinnert sich einer in der Runde plötzlich an den matten Nasenring eines Zuchtbullen, den ein Metzgergeselle dem buckligen Bauern aushändigte, der sein Großvater war.

Ist dies kein Handfeger, sondern der einst einem Bürstenbinder an der Haustür abgekaufte Kehrwisch. Gehörte solch ein roter Stoffetzen als Langholzwimpel zu deiner Trophäensammlung. Verknüpft sich der Tropfenfänger unserer Kommunionskerze mit dem Strumpfband der Frauen. Erzählt eine Schüssel, in der ansonst Bohnen eingeweicht wurden, daß der ergraute Landarzt seine Hände in ihrem heißen Wasser wusch, bevor er den Dammschnitt ansetzte bei der Hausgeburt. Wärmt sich an dieser reflektierenden Mauer wirklich noch ein Reisigbesen aus dürren Birkenzweigen, festgezurrt mit Kabelbinder, früher nahm man dazu einen Weidenzweig.

Walle (Walter-Hermann) Sayer, 1960 geboren. Kindheit und Jugend im Schatten des 1478 erbauten und 60 Meter hohen Bierlinger Kirchturmes, der mit seiner Höhe „ein Veto ragt ins amtierende Licht“. Lebt und schreibt in Horb am Neckar. Veröffentlicht seit 1984 Gedichte und Prosa. Verschiedene Auszeichnungen, zuletzt: Basler Lyrikpreis 2017 sowie Gerlinger Lyrikpreis 2018; 2020/2021 erhielt er ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds.
Zuletzt erschienen: „Mitbringsel“, Gedichte, 2019 und „Was in die Streichholzschachtel paßte“, Feinarbeiten, 2016. Im Frühjahr 2021 erscheint „Nichts, nur“, ein Auswahlband.
Walle Sayer bei Literaturport

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Walle Sayer, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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