Wintersonne

Gastbeiträge

Written by:

Views: 571

Hier ist ein langsames Land. Alles geschieht zu seiner festen Zeit. Die Kirchenglocken läuten am Mittag um fünf vor zwölf und am Abend um fünf vor sechs. Jeden Tag im Licht der Dämmerung, zehn Minuten nach Sonnenuntergang, verlassen zwei Waschbären den schon dunklen Wald, schauen rechts und links, ob Autos kommen, überqueren die Straße und gehen zum Abendessen in die Gärten und Garagen. Die schwarze Katze im ersten Stock öffnet mit der Klinke die Wohnungstür und geht aus dem Haus.

Der Nachbar, der jeden Morgen alle seine Fenster öffnet, sieht die Familie, einen Mann und ein Kind, manchmal eine Frau. Die Frau bewegt sich langsam, sie guckt langsam, sie geht langsam. Der Mann legt auf der Straße den Arm um sie, das Kind nimmt ihre Hand und zieht auch mal die Frau zum Brunnen. Die Frau ist eingehüllt in Liebe wie die Sandsteinfiguren in Holz und es ist, als arbeiteten die Liebenden den ganzen Tag vergeblich, um ihr ein Lächeln zu entlocken. Niemand bemerkt’s bis auf den alten Nachbarn. Er hat ihnen schon alles erzählt, ob sie’s verstanden haben?
Und nun, da sie das Laub im Wind sich im Kreis drehen sahen, sang er: Wenn das meine Mutter wüsste, wie‘s mir in der Fremde ging! Schuh und Strümpfe sind zerrissen, durch die Hosen pfeift der Wind.
Es wird allmählich Winter.
Durch die Hosen pfeift der Wind, stimmt, oder? sagte er zum Kind. Das Kind lachte leise, der Mann lächelte, weil das Kind lachte. Der Nachbar sah, dass die Frau nicht den Blick hob, obwohl er sprach, sang und lachte. Dass sie eigentlich wohl die Augen auf hatte, aber nirgends etwas sah, was da um sie war.
Er sei neun Jahre alt gewesen bei der großen Flucht, die kleine Stadt sei nur noch von Geistern und Gespenstern und Katzen bewohnt gewesen, alle Einwohner geflohen. Nur ein Geisterzug habe noch am Bahnhof gestanden.

Aus:
Anja Tuckermann: Wintersonne. Erstveröffentlichung in: Radar – Literaturmagazin, herausgegeben von: Instytut Kultury Willa Decjusza, Kraków, Polen, 2022

Anja Tuckermann, lebt in Berlin, wo sie auch aufgewachsen ist. Sie ist Autorin von Romanen, Theaterstücken und Kinderbüchern. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Literaturpreis (Denk nicht, wir bleiben hier – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner) und dem Friedrich-Gerstäcker-Preis (Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war) und in 15 Sprachen übersetzt, zuletzt Muscha auf kasachisch. Zuletzt erschien Palmström, Korf und Kunkel im Hirnkost Verlag (2021). Sie ist Mitherausgeberin von Todesursache: Flucht – Eine unvollständige Liste.
Anja Tuckermann (Literaturport)
Anja Tuckermann

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Anja Tuckermann.

Comments are closed.