Wortfindung

Wortfindung

Lisa war schon vier Jahre alt, als sie das erste Wort sprach. Sonne, sagte sie und ihre Mutter, die den Mittagstisch deckte, erschrak dermaßen, dass ihr ein Teller entglitt. Er zerbrach. Was hast du gesagt? fragte die Mutter, runzelte die Stirn. Sie fuhr sich durchs Haar, sah auf das Mädchen, auf die Scherben, auf den Nebel, der träge vorm Fenster hing. Sonne, wiederholte Lisa, als wäre es das einzige Wort, das es wert war, gesagt zu werden. Sie hob die Hand, zeigte nach draußen. Da ist keine Sonne, Lisa, nicht heute, sagte die Mutter, setzte sich zu ihrer Tochter, nahm sie in den Arm. Der Nebel ist so dicht, dass man kaum etwas sehen kann, sagte sie, seufzte. Beide schwiegen eine Weile. Mir fehlt die Sonne auch, sagte Hannah, gab der Tochter einen Kuss, stand auf, sammelte die Scherben auf. In ihrem linken Auge hing eine Träne. Sie hatten also doch recht, dachte Hannah. Dachte auch an die Hörtests, die Termine beim Kinderpsychologen, die Sorge, die ihr nachtschwarz in der Seele hing. Warum ist Mama traurig? hörte sie Lisa hinter sich fragen. Hannah weinte; wollte es nicht, konnte nicht anders. Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um, kniete nieder. Nein, Lisa, sagte sie, wischte sich Tränen aus den Augen, lächelte. Mama ist nicht traurig. Mama ist sehr glücklich.

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