Abendmahl

Gastbeiträge

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Schlag 18 Uhr
schlurfen sie alle herein
mit ihren mehr oder weniger roten Gesichtern,
schweigsam, gesenkten Blickes
und voller unbestimmter Ängste,
eine Ansammlung von Menschen,
wie unwillkürlich aus der Straßenbahn herausgepickt,
und doch mit dieser einen, unbarmherzigen Schnittmenge,
die sie alle zu Patienten
hier auf der Station macht:
Süchtige, manche noch frisch
und ganz erschrocken, zum ersten Mal hier,
andere schicksalsergeben, im Leid routiniert,
mit Gesichtern wie Gebäuden,
die man für immer im Moment des Einsturzes
eingefroren hat, wieder andere, die, längst jenseitig,
mit stumpf-hilflosem Ausdruck vegetieren,
im Krampfanfall zu oft auf den Kopf gefallen sind,
wie eine gesprungene Platte
immer denselben Zirkel beschreiben,
zunächst noch rein in die Entgiftungsstation
und wieder raus,
später dann eigentlich gar nicht mehr raus,
zuhause auf der Station, und was dann noch bleibt
ist das tiefe Inhalieren der selbstgedrehten Zigaretten,
Zug um Zug, kadmiumgelbe Finger halten
die heruntergebrannten Stummel
und im Grau des Bartes und
selbst dem des Haupthaars legen
schwefelgelbe Episoden
und schmutzig-braune Strähnchen,
wie von einer vollgesoffenen Friseuse gefärbt,
Zeugnis um Zeugnis ab.

Aus:
Philipp Schiemann: „Gnadenlos. Gedichte und Kurzprosa 2007–2012“, Grupello Verlag, Düsseldorf.

Philipp Schiemann, geb. 1969 in Düsseldorf, ist Autor und Mediengestalter. Seit Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Veröffentlichungen von Prosa und Sachtexten, letztere stets mit Bezug auf traditionelle westafrikanische Religion. Mitte Juli 2022 erschien das Audio-CD Hörbuch „Das große Raubtier weint bitterlich“, bei dem Schiemann eigene Texte liest und musikalisch von dem Düsseldorfer Künstler Frank Bauer begleitet wird.
Weitere Infos hier: www.pschie.com

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Philipp Schiemann, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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