Æ und AEI

Gastbeiträge

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Wenn es im Isländischen weh tut, sagt man „æ“.
Das ist ein heimtückischer Buchstabe, denn er enthält drei Buchstaben,
obwohl nur zwei zu sehen sind: a-e-i.
Die alten Griechen hatten kein „æ“, also mussten sie, wenn sie solche
Laute aufzeichnen wollten, ihn so schreiben wie er klang: „ὰεί“.

Das Merkwürdige am Schmerz ist (egal in welcher Sprache,
nehme ich an), dass es, wenn er vorbei ist, so ist, als
hätte es ihn nie gegeben. Er wird sofort theoretisch,
wie eine Wortartenanalyse oder Überlegungen
zu nicht einzuordnenden Wörtern. Doch oft ist es so,
solange er dauert – in der Mitte eines isländischen „æ“-i –,
als würde er nie aufhören zu existieren. Diese Tatsache
verursacht wahrscheinlich einen großen, wenn nicht
den größten Teil des Schmerzes.

Aber genau das ist die griechische Deutung dieser einmaligen
isländischen Klage: „ὰεί“; ad. immer, ewig, für immer und ewig.

Aus:
Ragnar Helgi Ólafsson: „Laus blöð / Lose Blätter“. Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer.
Der zweisprachig edierte Band erschien im September 2023 als Hardcover mit 304 Seiten im ELIF Verlag.

Ragnar Helgi Ólafsson, geb. 1971 in Reykjavík / Island, studierte an der Universität von Island Philosophie, Filmregie an der New York Film Academy und im Anschluss in Frankreich zunächst Französisch in Marseille und danach Kunst in Aix-en-Provence. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller ist er in den letzten Jahren vornehmlich als Grafikdesigner, bildender Künstler und Verleger tätig.
Für seinen ersten Gedichtband Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können (2015 / ELIF Verlag 2017) wurde er mit dem Tómas Guðmundsson-Poesie-Preis ausgezeichnet, für seine Story-Sammlung Handbuch des Erinnerns und Vergessens (2017 / ELIF Verlag 2020) war er für den Isländischen Literaturpreis in der Kategorie Belletristik nominiert, für das Ein Requiem genannte Buch Die Bibliothek meines Vaters (2018) in der Kategorie Sachbuch. Sein Gedichtband Lose Blätter (2021 / ELIF Verlag 2023) ist für den Literaturpreis des Nordischen Rats 2023 nominiert.
Ragnar Helgi Ólafsson lebt und arbeitet in Reykjavík.

Jón Thor Gíslason, geb. 1957 in Hafnarfjörður, lebt seit Anfang der 1990er Jahre als Bildender Künstler in Deutschland, derzeit in Düsseldorf. Bis 1988 war er professioneller Popmusiker in Island, danach absolvierte er ein Aufbaustudium (Meisterklasse) an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart. Er arbeitete zeitweise als Korrespondent in Deutschland (Kunst und Kultur) für die isländische Tageszeitung Morgunblaðið. In Zusammenarbeit mit Wolfgang Schiffer veröffentlichte er diverse Übersetzungen isländischer Lyrik, vor allem für den ELIF Verlag.
Jón Thor Gíslason

Wolfgang Schiffer, geboren 1946 in Nettetal/Niederrhein, lebt in Köln und Prag. Er arbeitet als Übersetzer aus dem Isländischen sowie als Herausgeber und schreibt Prosa und Lyrik. Zuletzt erschienen sein Gedichtband „Dass die Erde einen Buckel werfe“ (ELIF Verlag 2022), die Anthologie „Türschwellenkinder – Über die Arbeit der Eltern“ (Hrsg. zus. m. Dinçer Güçyeter, ELIF Verlag 2023) sowie die Übersetzung „Lose Blätter“ von Ragnar Helgi Ólafsson (zus. m. Jón Thor Gíslason, ELIF Verlag 2023). Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen, u. a. 1991 das Ritterkreuz des Isländischen Falkenordens und 1994 den Isländischen Kulturpreis für seine Verdienste um die Vermittlung isländischer Literatur und Kultur.
Wolfgang Schiffer

Gemeinsam gestalten Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer außerdem die Reihe Wortlaut Island in der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin, die zweimal im Monat Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik aus Island vorstellt.

Die Rechte am Originaltext liegen beim Autor, jene der deutschen Übersetzung beim ELIF Verlag. Die Bildrechte liegen bei Ragnar Helgi Ólafsson.


Æ OG ἀεί

Þegar maður finnur til á íslensku segir maður „æ“.
Það er lúmskur stafur því hann felur í sér þrjá stafi,
þótt einungis sjást móta fyrir tveim: a-e-i.
Forn-Grikkir áttu ekkert „æ“ svo ef þeir vildu skrá
slíkt hljóð hjá sér þurftu þeir að skrifa það út: „ἀεί“.

Það er skrýtið með sársauka (á hvaða tungumáli
sem er býst ég við) að þegar hann er liðinn hjá er
eins og hann hafi aldrei verið til. Hann verður strax
fræðilegur, eins og orðflokkagreining eða vangaveltur
um uppsópsorð. En oft er það hins vegar svo að á
meðan hann varir – í miðju íslensku „æ“-i – er sem
honum muni einmitt aldrei linna, hætti aldrei að
vera til. Þessi staðreynd veldur síðan líklega stórum,
ef ekki stærstum, hluta sársaukans.

En sú er einmitt grísk merking þessa einstaka
íslenska kveinstafs: „ἀεί“; ao. ávallt, ætíð, að eilífu.

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