As time goes by

Aus dem Alltag

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Wie ein verlorenes Kind steht sie im Gang mit den Haushaltswaren, gleich neben dem Persil und dem Wollwaschmittel, und schaut mich aus großen, braunen Augen an. Ihre Unterlippe zittert, der Mundschutz baumelt lose unterm Kinn. ‚Die Leute sind so grauslich‘, sagt die Regalauffüllerin zu mir, dem Wildfremden. Sie ist den Tränen nahe, ihre Arme hängen kraftlos an ihr herab, ihre Mimik zeugt von Unverständnis. Ich suche ihren Blick und lächle, mein Einkaufswagen sorgt für die nötige Distanz. ‚Die Leute sind wie immer‘, sage ich leise. ‚Die Nervösen sind nervös und die Depperten deppert. Die Angst macht sie halt zügellos.‘ Ob sie das tröstet, weiß ich nicht. ‚Nehmen Sie’s nicht persönlich‘, rate ich leichthin und weiß, dass meine Worte hohl klingen. ‚Es gibt auch die anderen. Und die Netten sind jetzt sogar noch eine Spur netter als zuvor.‘ Sie schnieft, nickt kurz und setzt ihre Maske wieder auf, hinter der ein blasses Lächeln verschwindet.
Dann frage ich sie, wo der Glasreiniger steht.

Wien hat sich eingerichtet in der Krise und seinen neuen Takt gefunden. Die Fiaker befördern keine Touristen mehr, sondern stellen Essen zu. Berufsgruppen, deren Existenz für gewöhnlich am Rand des Prekariats verläuft, werden plötzlich als Helden gefeiert. Ein wildes Gezänk um die Öffnung der Bundesgärten ist entbrannt und lässt tief blicken in die Wiener Seele. ‚Sperrt’s auf, es Heisl‘, steht am versperrten Tor des Volksgartens und ein anderer ergänzt: ‚Jo ned!‘.

Doris ist wieder im Krankenhaus, wo man jetzt im Schichtbetrieb arbeitet und erfährt, wie mühsam das ist: einen Zwölfstundentag mit einer FFP3-Maske im Gesicht zu meistern. Mein Home Office okkupiert nach wie vor unseren Esstisch und lässt mich langsam vergessen wie das war: eine Mahlzeit einzunehmen, ohne auf Laptop und Bildschirm zu starren. Eine innere Unruhe schleicht sich allmählich ein in unseren Körpern, macht sich breit, vergiftet infam unseren Alltag. Corona hat uns fest im Griff.
Die Flasche Wein reicht mittlerweile nicht länger als zwei Tage.

Seit wir aus der Quarantäne entlassen worden sind, führen uns die Wochenenden wieder in den Kleingarten, wo kein Computer am Esstisch hockt und das Krankenhaus nicht in Gehdistanz lauert. Im Garten ist schon längst der Frühling eingekehrt. Die Tulpen strecken ihre Köpfe dem stahlblauen Himmel entgegen, die Forsythie versprüht ihr sattes Gelb heuer länger als gewöhnlich und der Giersch schickt sich an, die rechte Seite des Vorgartens zu erobern. An der weißen Hausfassade klettert ein Dickmaulrüssler und verwirkt durch seine Unvorsichtigkeit sein Leben. Zwei Wildbienen zanken um einen Nistplatz im Insektenhotel, es scheint der Platz links unten höchst begehrt. Vor der Terrassentür liegt Marderlosung.

Kostbar sind sie, die Spaziergänge um die Kuppe des Wolfersbergs und die feinen Runden durch die Kleingärten, wo die Menschen ihre Terrassen kärchern und die Gartenmöbel aus dem Schuppen holen. Wir gehen vorbei an den Spielplätzen, die beide gesperrt sind und in denen Klettergerüst und Kinderschaukel vergeblich auf kleine Kundschaft warten. Ein Mann kommt uns entgegen und meidet ängstlich unseren Blick, als würde Augenkontakt schon reichen, um sich anzustecken. Wie werden wir miteinander umgehen, wenn Corona mit uns fertig ist, frage ich mich. Wie groß wird die Kluft sein, die das Virus reißt?

Der Sonntagmittag ist vorüber, ich rufe meine Eltern an. Sie würden gut versorgt, hat mich mein Vater wissen lassen, es ist zwei Wochen her. Der örtliche ‚Spar‘, man glaubt es kaum, hat ihnen angeboten, die Einkäufe frei Haus zu liefern. Ich war richtig gerührt. ‚Wart ihr wieder spazieren?‘, frage ich, als das Freizeichen der launigen Stimme meines Vaters weicht. ‚Aber freilich‘, meint mein Papa. Jeden Tag drehten sie eine große Runde durch das Dorf und träfen keine Menschenseele. Ich bin irritiert. ‚Aber einkaufen geht ihr nicht mehr, oder?‘ ‚Doch, doch. Aber da kann nichts passieren, wir tragen ja alle Masken.‘ Mir fehlen die Worte.
Ich weise recht brüsk auf das Risiko hin, wir hatten es des Öfteren besprochen. Doch mein Vater sieht sich nicht als Zielgruppe, warum denn auch? Er wird in Kürze siebenundachtzig und fast jeder, der stirbt, ist jünger als er. ‚Aber geh, sterben müssen wir alle‘, meint er leichthin und ich frage mich, wie viele Plattheiten eine Beziehung verträgt. Ihm geschähe schon nichts, sagt er entschieden und sein Tonfall duldet keine Widerworte.
Er werde nicht krank. Ende der Debatte.

Ich kapituliere, resigniere, akzeptiere. ‚Eins will ich aber wissen, Papa‘, sage ich. ‚Warum unbedingt selber einkaufen?‘ Eine Krähe setzt sich auf das Dach des Nachbarhauses und schaut in meine Richtung. ‚Weil ich mich nicht einsperren lasse‘, bricht es heraus aus ihm. Dann wird er still, er ist wohl selber nicht ganz glücklich mit der Antwort.
Wohl zehn Sekunden Schweigen folgen, doch mehr ist heute nicht zu sagen. Er beendet das Gespräch.

Ich trete ins Freie, setze mich neben Doris, die sich auf der Gartenbank sonnt und liest. Eine Honigbiene summt nah an meinem rechten Ohr vorbei und landet am Terrassenboden, wo sie sich zweimal im Kreis dreht und von einer Ameise begutachtet wird, bevor sie brummend hinter der Hausecke verschwindet. Die junge Tigerkatze, die neu ist in der Nachbarschaft und uns gnädig duldet in ihrem Revier, schlüpft durch den Zaun, kommt auf uns zu und hüpft auf meinen Schoß.

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