Risse
- Mai 15, 2020
- by
- Manfred Lipp
Manchmal, sagte sie, bekomme das Leben kleine Risse, durch die entweder Dunkelheit in die Seele drang oder Licht. Man konnte nie wissen, was stärker war. Sie sprach sehr langsam und jedes Wort schien ihr wichtig zu sein. Ihre Finger umklammerten einen Rosenkranz. Manchmal, sagte sie zu dem Mädchen, hätte sie Angst. Angst davor, dass die Risse zu tief würden.
Das Mädchen verstand nicht.
Die Dinge, vor denen das Kind sich fürchtete, waren allesamt konkret. Dass ihr der Nachbarsbub wieder eine Blindschleiche in die Schultasche stecken würde. Dass der Hund vom Ludwighof, an dem sie jeden Tag...
Woche sieben
- Mai 08, 2020
- by
- Manfred Lipp
Fast scheint es, die Zeit gerinne allmählich zu einer zähen Masse, die an den Schuhsohlen klebt und uns am Vorwärtskommen hindert. Woche sieben ist beschwerlich. Das Leben fordert viel und gibt so wenig dieser Tage.
Wir hatten die Maßnahmen begrüßt. Die Sorge geteilt um jene, die überaus gefährdet schienen. Unsere Wege auf das Nötigste beschränkt. Wir...
Polarweiß
- Mai 01, 2020
- by
- Manfred Lipp
Sollte sich jemals das Konzept des personalisierten Fegefeuers durchsetzen, mein Purgatorium wäre ein Baumarkt. Fassungslos stehe ich in der Farbenabteilung und starre auf eine Fülle von Weiß, die ich nicht vermutet hätte. Universalweiß, Polarweiß, Arktisweiß, Ultraweiß. Sogar Wohlfühlweiß ist im Angebot, was ich als puren Hohn empfinde.
Als ob ich mich in Gegenwart eines Kübels voller...
Im Schlafzimmer herrscht Maskenpflicht
- April 24, 2020
- by
- Manfred Lipp
Die ganze Welt schaut auf Corona. Wir starren auf eine weiße Wand. Ein wenig Grün hat sich dreingemischt, unübersehbar in den Ecken, dezent verglimmend in der Weite der Wand. Die Kästen stehen nun in der Mitte des Raums und fast könnte man meinen, sie wirkten beschämt, weil sie so klobig sind und nicht recht wissen,...
As time goes by
- April 17, 2020
- by
- Manfred Lipp
Wie ein verlorenes Kind steht sie im Gang mit den Haushaltswaren, gleich neben dem Persil und dem Wollwaschmittel, und schaut mich aus großen, braunen Augen an. Ihre Unterlippe zittert, der Mundschutz baumelt lose unterm Kinn. ‚Die Leute sind so grauslich‘, sagt die Regalauffüllerin zu mir, dem Wildfremden. Sie ist den Tränen nahe, ihre Arme hängen...