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Gastbeiträge

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Zwischen meinem achten und fünfzehnten Lebensjahr hat mich mein Vater viele Male mitgenommen nach Griechenland. Er hat dort einsame Inseln angesteuert, die wir damals mit Postschiffen oder kleinen Passagiermaschinen erreichten. Auf dem Festland waren wir manchmal auch mit dem Wohnwagen unterwegs. Vater suchte Plätze, die vom Tourismus noch verschont waren, denn er wollte ungestört Aquarelle von Land und Leuten malen. Es war abends auf einer dieser Reisen, als er mich beiseite nahm, und mir sagte, ich solle einmal in den Himmel schauen. Ich tat es, und wie immer auf diesen Reisen war der Himmel von einem leuchtenden Dunkelblau und übersät mit zahllosen Sternen. Es waren weit mehr, als ich es von Deutschland her kannte. Das Band der Sterne wölbte sich über uns und mehrfach in der Minute konnte man Sternschnuppen und andere Bewegungen in der Höhe sehen.

Ich kann mich an nur wenige Ereignisse aus meiner Kindheit erinnern, aber dieser Moment mit meinem Vater ist mir in Erinnerung geblieben. Ich denke, es war ein prägendes Erlebnis, denn seither habe ich häufig in meinem Leben Dinge, die ich nicht verstand oder als leidvoll empfand, durch die Zuwendung zur Natur hin relativieren können. Der gewaltige Himmel, die Sterne, der Wind, das weite Land, die Bäume, all diese sind mir Zuflucht und Ratgeber geworden.

Kurioserweise habe ich trotzdem immer in Städten gelebt und bin im Grunde völlig denaturiert, esse beispielsweise Fleisch, aber habe nie ein Tier geschlachtet oder zerlegt, ja wüsste gar nicht, wie das geht. Ich habe von Gemüse- oder Obstanbau nicht die geringste Ahnung. Ebenso wenig weiß ich vom Bau einer Hütte, könnte wahrscheinlich zunächst kaum überleben in der Natur. Trotzdem ist mir die Natur, solange ich denken kann, vertrauter als die Welt der Menschen. Irgendwie erlebte ich die Menschen nie als der Natur zugehörig. Falls sie mal dazugehörten, haben sie sich weit davon entfernt. Sie hielten sich immer schon für die Krone der Schöpfung. In ihrer grenzenlosen Egozentrik und Anmaßung erheben sie sich ständig über alles und jeden. Wir sind groteske, grausame Wesen. Wir glauben, wir wären frei, zu tun und zu lassen, was immer uns beliebt, ohne je die Konsequenzen tragen zu müssen. Das ist ein Irrtum.

Je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, dass wir alle nur innerhalb enger Grenzen wirklich frei sind, und dass uns oft nur das widerstandslose Akzeptieren dessen bleibt, was sich als unabänderlich erweist. Erst danach öffnen sich neue Türen, die über unser begrenztes Bild der Realität hinausführen und uns zu einem Frieden mit uns selbst und anderen bringen – und zwar nicht zu unseren Bedingungen.

„Wenn du in deinem Leben mal Probleme oder irgendwelche Schwierigkeiten hast, dann schau ab und zu mal da hoch“, sagte mein Vater und legte dabei den Arm um mich, „angesichts dieser Weiten und Dimensionen ist all das, was wir hier unten für groß, wichtig oder dramatisch halten, nur ein Stäubchen.“

Darin, so weiß ich heute, liegt manchmal ein großer Trost, eine Gnade, die uns sowohl Demut und Dankbarkeit fühlen lässt, als auch unsere Schmerzen lindert. Die uns auch auf unseren Platz verweist. Die uns berührt, wenn wir uns berühren lassen. Denn obwohl wir so inständig leben, lieben, leiden und zerstören unter diesem gewaltigen blauen Gewölbe sind wir, wie Hermann Hesse einst so schön sagte, doch alle nur für einen kurzen Besuch zu Gast. Und das ist gut so.

Philipp Schiemann, geb. 1969 in Düsseldorf, ist Autor und Mediengestalter. Seit Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Veröffentlichungen von Prosa und Sachtexten, letztere stets mit Bezug auf traditionelle westafrikanische Religion. Mitte Juli 2022 erschien das Audio-CD Hörbuch „Das große Raubtier weint bitterlich“, bei dem Schiemann eigene Texte liest und musikalisch von dem Düsseldorfer Künstler Frank Bauer begleitet wird.
Weitere Infos hier: www.pschie.com

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Philipp Schiemann, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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